Können oder wollen wir nicht?
Jedes Jahr im Mai veröffentlicht das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) den Berufsbildungsbericht, der wiederum auf einem eigenen Datenreport basiert. Er erfasst beispielsweise die Anzahl der angebotenen Ausbildungsplätze und die Nachfrage von Jugendlichen nach einer dualen Berufsausbildung. Kaum überraschend: Auch 2023 überstieg wie 2022 das Angebot die Nachfrage. Die Zahlen spiegeln die Erfahrungen, die viele Ausbildungsbetriebe machen: Die Anzahl der Bewerbungen geht immer weiter zurück, in manchen Regionen und Branchen gibt es so gut wie gar keine Bewerbungen mehr.
Man könnte es sich einfach machen ...
... und auf den demografischen Wandel verweisen. Die Bevölkerung altert, zugleich stagniert die Geburtenrate auf niedrigem Niveau. Somit gibt es einfach nicht genug junge Menschen, um die vorhandenen Ausbildungsplätze zu besetzen, oder anders formuliert: Diejenigen Jugendlichen, die sich für eine Ausbildung interessieren, können sich das beste Angebot aussuchen und folglich nimmt der Wettbewerb zwischen den Ausbildungsbetrieben stetig zu. Bleibt man bei dieser Sichtweise, dann sind die anstehenden Maßnahmen klar:
- Ausbildungsbetriebe müssen ihr Recruiting und Ausbildungsmarketing weiter professionalisieren.
- Zudem muss die Ausbildung in Abstimmung mit den Wirtschaftsverbänden und mit Unterstützung der Politik noch attraktiver werden: moderner, digitaler, nachhaltiger.
Alles klar, wie es scheint, die entsprechenden Maßnahmen sind beispielsweise durch die Anpassung der Berufsbildpositionen 2022 und die Anhebung der Mindestvergütung für Auszubildende „unterwegs“.
Doch wie passt dann diese Zahl ins Bild?
Rund 2,86 Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 34 Jahren haben laut Datenreport des BIBB gar keinen Berufsabschluss, das entspricht 19,1 Prozent dieser Altersgruppe. Zu wenige junge Menschen scheint es offensichtlich gar nicht zu geben, jedenfalls nicht in dem Maße wie es das Erklärungsmuster „demografischer Wandel“ glauben macht. Zu Recht kritisiert BIBB-Präsident Esser: „2,9 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss können wir uns nicht leisten.“
Wer sind diese fast 3 Millionen Menschen?
Auch darauf gibt der Datenreport einige Antworten. Zunächst differenziert die Statistik mehrere Zwischenstufen, die in der Gesamt-Altersspanne 20 bis 34 Jahre zusammengefasst werden:
- Bei den 20- bis 24-Jährigen beträgt die Quote der sogenannten „nicht formal Qualifizierten“ (nfQ) 16,6 Prozent.
- Bei einer Betrachtung der Altersspanne von 20 bis 29 Jahren liegt die nfQ-Quote bei 18,4 Prozent und
- bei den 25- bis 34-Jährigen liegt sie sogar bei 20,1 Prozent.
Die Erklärung hierfür: Eine gewisse Anzahl der 20- bis 24-Jährigen besucht noch eine Schule oder befindet sich in einer Überbrückungs- bzw. Übergangsmaßnahme, zum Beispiel zur Vorbereitung auf eine potenzielle Ausbildung. Schon in dieser Phase gibt es die sogenannten Abbrecher. Und es gibt einen Großteil dieser jungen Erwachsenen, die nach dem Ende der Schule oder der Überbrückungsmaßnahme den Weg in eine Ausbildung nicht finden – oder nicht gehen wollen. Stattdessen verdienen sie ihr Einkommen mit Hilfsarbeiten bzw. Jobs, für die kein formaler Berufsabschluss erforderlich ist, – wenn sie überhaupt arbeiten.
Mit dem Fokus auf genau diese jungen Menschen bietet die Arbeitsagentur wertvolle Unterstützung, von denen auch ausbildende Unternehmen profitieren (mehr dazu hier).
Noch näher hingeschaut
Der BIBB-Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2024 hebt hervor, dass die Quote der nicht formal Qualifizierten in Abhängigkeit vom erreichten Schulabschluss deutlich variiert. Konkret: „Personen ohne Schulabschluss haben ein besonders hohes Risiko, auch ohne einen beruflichen Abschluss zu bleiben.“ Von den besagten 2,86 Millionen 20- bis 34-Jährigen ohne Berufsabschluss besaßen 2022, im Jahr der Datenerhebung, 74,7 Prozent auch keinen Schulabschluss!
Also noch einmal: Wer sind diese umgerechnet 2,1 Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 34 Jahren, die in Deutschland leben und weder über einen Schul- noch über einen Berufsabschluss verfügen? Antwort des Datenreports:
„Während junge Erwachsene zwischen 20 und 34 Jahren mit einer deutschen Staatsbürgerschaft eine nfQ-Quote von nur (sic!) 12,7 % vorwiesen, waren es bei den ausländischen Gleichaltrigen mit einer Quote von 38,1 % genau dreimal so viele. Auch Personen mit Migrationshintergrund blieben überdurchschnittlich häufig ohne formale Qualifizierung. Im Jahr 2022 lag die nfQ-Quote der 20- bis 34-jährigen Migrantinnen und Migranten mit eigener Migrationserfahrung bei 39,1 %. Auch bei Personen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, fiel die nfQ-Quote mit 20,4 % vergleichsweise hoch aus. Die nfQ-Quote deutscher Personen ohne Migrationshintergrund lag 2022 bei 11,6 %." (Quelle: BIBB Datenreport)
Was bedeuten diese Zahlen für die Ausbildung?
Unser Bildungssystem hat ein Problem, und zwar mit einem ziemlich großen Anteil derjenigen jungen Menschen, die, in welcher Form auch immer, einen Migrationshintergrund mitbringen. Ob mit oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft, ob erst vor Kurzem oder bereits vor Jahren zugewandert, ob als Einwandererkinder oder als Geflüchtete – wir sind offensichtlich gegenüber vielen dieser Menschen nur mangelhaft dazu in der Lage, sie bei uns so zu integrieren, dass sie zuerst ihren Schul- und dann auch ihren Berufsabschluss machen. Das liegt insbesondere am Thema Sprachkompetenz. So formuliert auch der BIBB-Datenreport in seinem Fazit, dass es naheliegt,
„dass mehr Anstrengungen unternommen werden müssen, um junge Erwachsene, die nach Deutschland gezogen sind, besser und schneller zu integrieren, insbesondere durch die Vermittlung von Deutschkenntnissen. Diese Notwendigkeit wird auch durch die Ergebnisse der letzten Pisa-Studie (2022) und des IBQ-Bildungstrends 2022 unterstrichen, welche zeigen, dass Schüler/-innen mit Migrationshintergrund sowohl in naturwissenschaftlichen Fächern als auch in Lesekompetenz signifikant hinter Schülern/-innen ohne Migrationshintergrund liegen.“
Ausbilderinnen und Ausbilder stehen demzufolge vor einem Dilemma
Auf der einen Seite sind potenzielle Auszubildende vorhanden, auf der anderen Seite müssen sie auf neue Weise angesprochen bzw. für die Ausbildung gewonnen werden. Und: Sie werden ihren Weg zum erfolgreichen Abschluss oft nur gehen können, wenn sie eine massive Integrationsunterstützung und Förderung erhalten: angefangen zu allererst bei ihren Deutschkompetenzen und fortgesetzt bei den grundlegenden schulischen Kenntnissen und Fertigkeiten.
Hinzu kommt die Herausforderung, die interkulturellen Kompetenzen und die Offenheit gegenüber Menschen aus anderen Kulturen nicht nur in der Ausbildung, sondern im gesamten Unternehmen weiterzuentwickeln – spätestens hier sind das klassische Ausbildungsmandat und der übliche Verantwortungsbereich des ausbildenden Personals überschritten.
Seien wir ehrlich: Dass Deutschland sich mit der Integration von bestehenden und potenziell neuen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern bzw. von Menschen, die aus inländischer Perspektive einen Migrationshintergrund aufweisen, schwertut, ist nichts Neues. Die Bedeutung dieses Problems wird jedoch (leider) oft nur unzureichend dargestellt und das macht die Botschaft des Berufsbildungsberichts bemerkenswert.
Um unsere Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, brauchen wir qualifizierte Fachkräfte. Trotzdem lassen wir das Potenzial von rund einem Fünftel der hier lebenden jungen Erwachsenen brach liegen, weil wir nicht Willens und/oder in der Lage sind, diese in unsere Bildungssysteme, in unser tägliches Miteinander und selbstverständlich auch in unsere Unternehmen zu integrieren.
Gefragt sind also neue Ideen und Konzepte für eine bessere Integration, angefangen bei den Kindergärten und Grundschulen über die weiterführenden Schulen bis zur Ausbildung. Das wird nicht ohne Veränderung gehen. Die beschriebenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen und ebenso wir als „typische“ deutsche Gesellschaft müssen uns den Realitäten stellen, uns öffnen und weiterentwickeln, denn ein „irgendwie“ Weitermachen wird die mit dem Misserfolg unserer Integrationsbemühungen verbundenen Probleme nur weiter verschärfen und die durch sie verursachten Kosten weiter in die Höhe treiben. Indem wir Integration neu denken, neu gestalten und fördern, können wir tatsächlich nur gewinnen!
Politik ist ein zähes Geschäft und braucht Zeit – doch viele Betriebe brauchen ihre neuen Auszubildenden jetzt. Was sind also Maßnahmen, um im Kleinen zu starten und für den nächsten Ausbildungsstart vielleicht schon besser aufgestellt zu sein? Ein paar erste Ideen haben wir für Sie, doch die erste Frage lautet: Wollen Sie bzw. will Ihr Betrieb überhaupt?
Funktionierende Integration bedeutet Zukunftssicherung
- Sprechen Sie mit der Bundesagentur für Arbeit. Sie bietet viele Unterstützungsmaßnahmen im Vorfeld der Ausbildung, für den Einstieg und auch während der Ausbildung. Eine kurze Übersicht über die Maßnahmen finden Sie hier.
- Stärken Sie die interkulturelle Kompetenz im gesamten Ausbildungsteam – am besten im gesamten Unternehmen
(Moslem ist nicht gleich Moslem, arabisch ist nicht gleich arabisch, deutsch ist nicht gleich deutsch …)
- Suchen Sie sich Partner, die Ihnen dabei helfen, die Deutschkompetenzen von betroffenen Auszubildenden insbesondere beim Start der Ausbildung spürbar zu fördern. Das kann eine Sprachschule sein oder ein eigener Sprachlehrer/eine eigene Sprachlehrerin, das können Kooperationen mit anderen Ausbildungsbetrieben oder Projekte in Zusammenarbeit mit der Berufsschule sein ... Hören Sie sich um, wie andere Unternehmen mit der Herausforderung umgehen und welche Lösungen es bereits in der Praxis gibt. Im Kleinen funktionieren viele Maßnahmen auch ohne großes Regelwerk.
- Mischen Sie die Teams von Auszubildenden und Mitarbeitenden bewusst, damit möglichst immer Deutsch gesprochen wird und sich fremdsprachige Auszubildende bzw. Mitarbeitende nicht untereinander in „geschlossenen“ Diskursen austauschen.
- Legen Sie klare Regeln fest, wie Konflikte im Betrieb gelöst werden – und machen Sie diese in allen Sprachen zugänglich, die Ihre Auszubildenden und Mitarbeitenden sprechen.
- Starten Sie ausbildungs- und abteilungsübergreifende Integrationsprojekte in Ihrem Betrieb, in denen sich alle Mitarbeitenden engagieren können. Echte Hilfen sind zum Beispiel ein gemeinsames Deutschtraining, Behördenhilfe, gemeinsame Freizeitaktivitäten, gemeinsame kulturelle Feste – eben alles, was dazu beiträgt, das gegenseitige Verständnis zu fördern und Hürden für ein echtes Miteinander abzubauen.
- Vernetzen Sie sich mit anderen Ausbilderinnen und Ausbildern, um gemeinsam weitere Maßnahmen und Ideen zu entwickeln und ggf. mit Unterstützung von Partnern zu realisieren, zum Beispiel Matheförderprogramm, Vokabeltraining berufsspezifischer Fachbegriffe usw.
- Signalisieren Sie in Ihrem Ausbildungsmarketing, dass Ihr Unternehmen Bewerberinnen und Bewerber mit anderem kulturellem Hintergrund willkommen heißt:
¿Tu entrenamiento con nosotros? ¡De nada!
tadribuk maena? ealaa alrahb walsaeati!
Vaš trening s nama? Molim!
Ваше навчання з нами? Ласкаво просимо!
Your training with us? You're welcome!
Deine Ausbildung bei uns? Du bist herzlich willkommen!
Unterstützungsangebote der Agentur für Arbeit
- Berufseinstiegsbegleitung
Unterstützt werden Schülerinnen und Schüler, wenn sie Probleme haben, ihren Schulabschluss zu schaffen, wenn sie keinen Ausbildungsplatz finden oder wenn sie sich keine Ausbildung zutrauen. Die Begleiterinnen und Begleiter helfen auch bei persönlichen oder familiären Problemen weiter.
- Berufsvorbereitung an beruflichen Schulen
Jugendliche, die noch keinen Ausbildungsplatz oder trotz Schulabschluss großen Nachholbedarf haben, können bei verschiedenen Bildungsträgern zur Vorbereitung auf eine Ausbildung verschiedene Bildungsgänge belegen. Es gibt zum Beispiel das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) oder das Berufsbildungsjahr (BGJ). Das Berufsbildungsjahr gilt als erstes Ausbildungsjahr und kann später entsprechend angerechnet werden. Das Berufsvorbereitungsjahr bietet für Schulabbrecher die Möglichkeit, einen Schulabschluss nachzuholen.
- Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme (BvB)
Diese Maßnahme unterstützt Jugendliche dabei, ihre ersten Schritte in der Berufswelt zu gehen und sich zu orientieren. Die Jugendlichen durchlaufen verschiedene Betriebe bzw. die Betriebe können dadurch auch die Jugendlichen kennenlernen. Begleitet wird die Bildungsmaßnahme auch mit Unterricht, um die Jugendlichen fit für eine spätere Ausbildung zu machen. Wer keinen Schulabschluss geschafft hat, kann währenddessen auch den Hauptschulabschluss nachholen.
- Einstiegsqualifizierung (EQ)
Wer keinen Ausbildungsplatz gefunden hat, kann an einem längeren geförderten Praktikum teilnehmen, das auf eine Ausbildung vorbereitet. Die Einstiegsqualifizierung kann zwischen vier und zwölf Monaten dauern. Die Jugendlichen verdienen dabei schon Geld, denn das Gehalt wird von der Agentur für Arbeit mitfinanziert. Das motiviert natürlich, die Maßnahme auch durchzuhalten. Für Unternehmen ist es wiederum eine gute Chance, Jugendliche kennenzulernen und ihre Stärken und Schwächen besser herausfinden zu können. Je nachdem, wie es gelaufen ist, kann diese Zeit auch später auf eine anschließende Ausbildung angerechnet werden.
- Assistierte Ausbildung (AsA)
Kommt es während der Ausbildung oder auch schon während der Einstiegsqualifizierung (EQ) zu Problemen, kann eine Ausbildungsexpertin oder ein Ausbildungsexperte weiterhelfen. Die Maßnahme besteht aus zwei Teilen: In der „Vorphase“ werden junge Menschen auf eine Ausbildung vorbereitet, beispielsweise durch Hilfestellungen bei Bewerbungen bzw. bei der Berufswahl. Im zweiten Teil, „der begleitenden Phase“ können auch Unternehmen profitieren. Denn Auszubildende erhalten dabei Hilfe, für Prüfungen zu lernen, in der Berufsschule am Ball zu bleiben, Deutschkenntnisse zu verbessern, aber auch Probleme im Betrieb zu lösen. Die Unterstützung kann bei Bedarf während der gesamten Ausbildung oder der Einstiegsqualifizierung gewährt werden. (vgl. hierzu auch unseren Artikel zu den ausbildungsbegleitenden Hilfen Unterstützung mit Mehrwerten
Weiterführende Links
- Die bayerischen IHK-Ausbildungsberatungen unterstützen Ausbildungsbetriebe auch mit Know-how und Kontakten, um ihre Integrationsmaßnahmen weiterentwickeln zu können, ggf. vermitteln sie Ihnen den Kontakt zu den zuständigen IHK-Integrationsberaterinnen und -beratern.
- Unterstützungsangebote der Arbeitsagentur vor und während der Ausbildung
- NEETS – nicht genutztes Potenzial: Jugendliche und junge Erwachsene „Not in Education, Employment or Training“ – Artikel hier im BIHK-Lernreich
- AssistierteAusbildung/ausbildungsbegleitende Hilfen – eine Erklärung und weiterführende Links hier im BIHK-Lernreich
- Gemeinsam geht's besser: NETZWERK Unternehmen integrieren Flüchtlinge
- Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung KOFA
- Informationen für Migrantinnen und Migranten: Integration leben – in Bayern daheim
- Zum Berufsbildungsbericht des BMBF