Unterstützung mit Mehrwerten

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Ohne Frage hätten Unternehmen gerne Ausbildungsbewerberinnen und -bewerber, die über eine gute schulische Bildung verfügen, charakterlich gefestigt und von der Wahl ihres Ausbildungsberufs voll überzeugt sind. So könnte man loslegen!

Die Realität sieht anders aus. Kandidatinnen und Kandidaten erfüllen selten ideale Profile, das war schon immer so. Und schon immer verlangt die Ausbildung von den Ausbilderinnen und Ausbildern die Fähigkeit, Jugendliche zu nehmen, wie sie in ihrer Zeit nun einmal sind, und sie so zu motivieren und zu begleiten, dass sie zu qualifizierten Fachkräften mit Zukunft im Unternehmen heranreifen und mündige Bürgerinnen und Bürger werden.

Doch schon immer gab es auch die Frage nach den Grenzen des Möglichen. Wie will man jemanden ausbilden, der oder die nahezu kein Wort Deutsch spricht? Wie kann man die vielleicht vorhandenen Potenziale von Jugendlichen aufdecken und zur Entfaltung bringen, wenn Drogen, Obdachlosigkeit oder Schulden im Spiel sind? Ist es Ausbilderinnen und Ausbildern zuzumuten, Jugendlichen die einfachsten Grundlagen der Mathematik oder der Allgemeinbildung beizubringen, über deren Vorhandensein man eigentlich gar nicht diskutieren möchte?

Was nicht ist, kann aber doch werden

Der springende Punkt ist, dass diese Grenzen verschoben werden können. Die Rede ist von den sogenannten ausbildungsbegleitenden Hilfen (abH). Sie sollen Jugendliche, die besondere Förderung brauchen, Schritt für Schritt fit für die Ausbildung machen (sog. Einstiegsqualifizierung), sie sollen „schwierige Fälle“ durch sozialpädagogische Begleitung festigen und/oder durch speziellen Stützunterricht auf den erforderlichen Stand an Wissen und Verstehen bringen.

Beantragen müssen die Jugendlichen diese Hilfen bei ihren Berufsberaterinnen und -beratern des örtlichen Jobcenters zwar selbst, aber Ausbilderinnen und Ausbilder sollten das Angebot in jedem Fall kennen, ihre Auszubildenden ggf. darauf aufmerksam machen und idealerweise auch am Beratungsgespräch teilnehmen. Denn die Praxis zeigt: Die ausbildungsbegleitenden Hilfen entlasten die Ausbilderinnen und Ausbilder und eröffnen so manchen Jugendlichen Wege in die Zukunft, die ohne Hilfe nicht möglich gewesen wären.

Hinweis: Die Instrumente der Assistierten Ausbildung (AsA) und der ausbildungsbegleitenden Hilfen (abH) wurden von der Bundesagentur für Arbeit im September 2021 zu einem neuen Instrument "Assistierte Ausbildung Flexibel" (AsAFlex) zusammengeführt, um die Beratung, die Anträge und die interne Verwaltung der Unterstützungsmaßnahmen zu vereinfachen. In der Praxis und in diesem Artikel bleibt der Begriff der "abH" fest verankert. 

Praxisbeispiel

Die Stadtwerke München haben sich dieser Thematik bereits vor über 35 Jahren angenommen und zusammen mit dem Jugendamt der Stadt ein eigenes „Stadtwerkeprojekt“ initiiert (alle Informationen zum Projekt). Einerseits geht es darum, als einer der größten Ausbildungsbetriebe der Region noch mehr Verantwortung für die soziale und berufliche Integration von Jugendlichen mit Startschwierigkeiten zu übernehmen. Andererseits trägt das Projekt auch zur Fachkräftesicherung bei und kann daher als Modell bzw. Ideengeber für andere Unternehmen, auch kleine und mittelständische, dienen. Wir sprachen mit der Psychologin Marija Bakotic, die seit 2017 im sozialpädagogischen Bereich des Projekts arbeitet, und dem Ausbilder Dag Schneider.


Frau Bakotic, Herr Schneider, ganz kurz zusammengefasst: Das Stadtwerkeprojekt ermöglicht jedes Jahr vier oder fünf Jugendlichen mit Startschwierigkeiten eine sozialpädagogisch begleitete Ausbildung, bei Bedarf sogar einschließlich einer Wohnmöglichkeit. Der Aufwand ist verglichen mit „normalen“ Auszubildenden deutlich höher. Inwiefern kann das Projekt bzw. können Ihre Erfahrungen dennoch auch anderen Unternehmen Impulse geben?  

Marija Bakotic: Ich denke, dass die Ausbildung generell nicht als Kosten-Nutzen-Rechnung verstanden werden sollte. Wie viel Potenzial ein Mensch in seinem Berufsleben für das Unternehmen entfaltet, das lässt sich am Beginn des Weges nicht seriös einschätzen. Wir erleben „normale“ Azubis, die über ein Mittelmaß nicht hinauskommen. Und wir erleben förderbedürftige Jugendliche, die sich unglaublich entwickeln und nach ihrer Übernahme sicher zu den Top-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern zählen. Eine Garantie gibt es in keinem der Fälle, da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Unser Projekt zeigt aber eindeutig, dass das Risiko eines Scheiterns durch den Einsatz der richtigen Förderinstrumente erheblich gesenkt werden kann.

Dag Schneider: Das sehe ich als Ausbilder genauso. Ich lese in den Medien, dass Unternehmen immer öfter keine geeigneten Auszubildenden mehr finden. Dann stellt sich mir die Frage, wer diese Eignung eigentlich feststellt und nach welchen Kriterien. Wir haben sicher keinen Mangel an Jugendlichen, die schwierige Zeiten hinter sich haben, vielleicht sogar noch mittendrin stecken. Viele von ihnen wünschen sich sehr, endlich Fuß zu fassen und ein stabiles Leben zu führen. Um die tatsächliche Ausbildungseignung auch von solchen Jugendlichen festzustellen, haben wir ein erweitertes Einstellungsverfahren entwickelt und damit sehr gute Erfahrungen gemacht.

Können Sie das etwas genauer schildern?

Dag Schneider: Grundsätzlich muss das Unternehmen natürlich kommunizieren, dass es für alle Bewerbungen offen ist, unabhängig von Schulnoten oder schwierigen Vorgeschichten. Bei uns erfolgt das unter anderem über die Projektseite im Internet und durch die enge Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. Wir führen mit allen, die sich bewerben, ein Vorstellungsgespräch und stimmen uns außerdem mit dem Jugendamt darüber ab, welche Förderung wahrscheinlich nötig sein wird. Entscheidend ist, dass die Jugendlichen obligatorisch ein einwöchiges Praktikum bei uns absolvieren. Wir machen kleine Tests, wir geben Hausaufgaben auf und unsere Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen führen ausführliche Gespräche mit den Kandidatinnen und Kandidaten. Junge Menschen, die drogensüchtig sind, können wir zum Beispiel generell nicht in die Ausbildung übernehmen, das wäre viel zu gefährlich, wenn sie an einer Maschine arbeiten.

Marija Bakotic: Man kann vereinfacht sagen, dass wir aus sozialpädagogischer Sicht, aus Sicht der Ausbilderinnen und Ausbilder und mit unserem Blick auf das Zusammenpassen des neu startenden Azubi-Teams die Erfolgsaussichten beurteilen. Eine Ausbildungsplatzzusage erteilen wir dann, wenn es auch realistische Aussichten auf einen Erfolg gibt. Wir wollen kein Ort für die Fortsetzung von Misserfolgen sein, davon hatten diese Jugendlichen schon genug. Deshalb geben wir bei einer  Ablehnung aber auch immer ein konstruktives Feedback: „Mach zuerst deine Therapie und bewirb dich nächstes Jahr noch einmal“, „deine Berufswahl ist eigentlich nicht das, was du wirklich machen willst. Deshalb wird es auch nicht funktionieren“, so in der Art.

Das heißt, das Team der Ausbildenden, profitiert schon beim Auswahlverfahren von der sozialpädagogischen Begleitung, richtig? Kann denn jedes Unternehmen solche Unterstützung erhalten?

Dag Schneider: Man muss es eben organisieren und offen sein, diese Expertise auch anzunehmen. Die IHKs bieten immer wieder Weiterbildungen für Ausbilderinnen und Ausbilder, bei denen es um solche Kompetenzen geht. Ich persönlich möchte mich zum Beispiel zum Geprüften Berufspädagogen weiterbilden, denn wir brauchen in der Ausbildung über die berufsspezifischen Kompetenzen hinaus ganz besonders diese pädagogischen und sozialen Qualifikationen. Außerdem können die Agentur für Arbeit bzw. das Jobcenter vor Ort Kontakte zu qualifizierten Trägerorganisationen zum Beispiel der Jugendhilfe herstellen.

Marija Bakotic: Vernetzung ist das Stichwort. Davon profitiert die Ausbildung insgesamt und nur durch Vernetzung können Ausbilderinnen und Ausbilder schnell zu Lösungen kommen, wenn sie im Umgang mit „schwierigeren" Jugendlichen nicht weiterwissen. Unser Netzwerk reicht von der Berufsschule über die IHK und den Joblingen bis zu vielen Trägerorganisationen für spezielle ausbildungsbegleitende Hilfen. Es sind ja ganz verschiedene Förderungen, die abrufbar sind und jeder Einzelfall braucht ein anderes Paket.

Wie meinen Sie das?

Marija Bakotic: Von den ausbildungsbegleitenden Hilfen können im Prinzip ALLE Auszubildenden profitieren. In den Stützunterricht entsenden Unternehmen zum Beispiel nicht nur Jugendliche, die ihre Ausbildung schon mit Startschwierigkeiten begonnen haben. Im Bereich Fertigungstechnik besuchen etwa 6.000 Auszubildende die Berufsschule in München. Die Klassengröße liegt bei 30 bis 40 Jugendlichen. Dass in so einer Konstellation nicht bei jedem das im Unterricht hängen bleibt, was nötig wäre, hat nichts mit einem besonderen Förderbedarf des Einzelnen zu tun.

Dag Schneider: Oder nehmen wir die Situation von Geflüchteten. In den meisten Fällen geht es bei ihnen darum, mit aller Entschiedenheit die Deutschkompetenzen zu fördern. Das ist machbar. Wir haben mittlerweile Jugendliche und junge Erwachsene aus 22 Nationen, darunter auch unbegleitete jugendliche Geflüchtete, erfolgreich ausgebildet und übernommen. Man muss eben wirklich viel Sprachunterricht und -training organisieren, so viel Unterstützung beim Erlernen der deutschen Sprache kann eine Ausbilderin oder ein Ausbilder allein nicht leisten. Man muss sich professionelle Hilfe von mehreren Stellen hinzuholen, dann klappt es auch.    

Und man braucht einfach mehr Zeit, oder nicht?

Dag Schneider: Die Ausbildung von Jugendlichen mit Startschwierigkeiten ist vom Ablauf und von den Inhalten her keine andere Ausbildung als die aller anderen Jugendlichen auch. Wir gehen lediglich in der Organisation der Ausbildung und beim Umfang der Gesprächs-, Betreuungs- und Förderangebote die entscheidenden Schritte weiter. Wir haben im Betrieb eine ständige sozialpädagogische Ansprechperson, an die sich die Auszubildenden, eigentlich aber alle Auszubildenden, wie auch die Ausbilderinnen und Ausbilder jederzeit wenden können. Und wir können uns die erforderliche Zeit nehmen, um persönliche Gespräche zu führen, wichtige Schritte zu begleiten, nachzufassen, wie es den Jugendlichen geht, wo es klemmt und so weiter. Ausbildung mit Zeitstress im Nacken, das funktioniert nicht. Zeitdruck geht immer auf Kosten der Auszubildenden und des gemeinsamen Erfolges.

Welche Empfehlungen rund um die Ausbildung von Jugendlichen mit Startschwierigkeiten würden Sie anderen Unternehmen noch geben?

Marija Bakotic: Die Arbeit mit sogenannten schwierigen Jugendlichen verlangt in erster Linie aktive und über die gesamte Ausbildungsdauer fortgesetzte Beziehungsarbeit. Das ist in dem Umfang und in der Tiefe sicher nicht jedermanns Sache. Aber man kann es lernen oder diesen Part an Spezialisten abgeben, die als Sozialarbeiterinnen bzw. Sozialarbeiter genau das machen wollen. Das Team im Unternehmen schafft den Erfolg.  

Dag Schneider: Die Vernetzung haben wir schon erwähnt. Es gibt in Verbindung mit den ausbildungsbegleitenden Hilfen wirklich ein breites Spektrum von Unterstützungsleistungen und es ist keine Schande, weder für die verantwortlichen Ausbildenden noch für die Azubis, diese zu nutzen. Man bringt seine eigenen Erfahrungen mit, man profitiert im Netzwerk von den Erfahrungen anderer, ich kann das wirklich empfehlen. Am Ende profitieren die Jugendlichen, weil ihnen ihr Berufsabschluss gelingt, und das Unternehmen, weil es eine neue Fachkraft übernehmen kann. So verstehen wir hier soziale Verantwortung in der Wirtschaft.

Frau Bakotic, Herr Schneider, herzlichen Dank für Ihre Erfahrungen und die wertvollen Impulse!


Was sind die ausbildungsbegleitenden Hilfen?

Die ausbildungsbegleitenden Hilfen (abH) sind eine Teilleistung der sog. assistierten Ausbildung (AsA). Die Agentur für Arbeit bzw. die Jobcenter vor Ort arbeiten hierbei mit ausgewählten Bildungsträgern und sozialpädagogischen Einrichtungen zusammen. Ziel ist es, Jugendlichen, die aufgrund schlechter Schulnoten oder wegen anderer sozialer Schwierigkeiten eine Förderung brauchen, den Start in die Ausbildung zu ermöglichen bzw. ihnen während ihrer Ausbildung gezielte Unterstützung zu bieten.

KURZ UND KNAPP
Ausbildungsbegleitende Hilfen

  • werden in den meisten Fällen zur Behebung von Lernschwierigkeiten genutzt. In kleinen Lerngruppen erhalten die Teilnehmenden je nach individuellem Bedarf Stützunterricht durch ehrenamtliche Lehrerinnen und Lehrer, Ausbilderinnen und Ausbilder sowie Berufspraktikerinnen und -praktiker und verbessern hierdurch ihre Kompetenzen
    - in den fachtheoretischen Bereichen,
    - in der Allgemeinbildung,
    - im mündlichen und schriftlichen Deutsch.
    Auch eine gezielte Unterstützung bei der Prüfungsvorbereitung ist möglich.
     
  • beantragt der bzw. die Auszubildende bei der Berufsberatung der Agentur für Arbeit bzw. beim Jobcenter vor Ort.
     
  • können auch Ausbildungssuchende beantragen bzw. vor dem Beginn der Ausbildung als Einstiegsqualifizierung genutzt werden (sog. Assistierte Ausbildung AsA).
     
  • beinhalten vielfältige Angebote der Unterstützung bei persönlichen Problemen wie sozialer Benachteiligung, Suchterkrankungen, Depressionen usw. durch sozialpädagogisch qualifizierte Expertinnen und Experten.
     

Übrigens: Ausbildungsbetriebe, die Jugendliche mit Startschwierigkeiten ausbilden oder ihnen eine Ausbildung in Teilzeit ermöglichen, können unter bestimmten Voraussetzungen bis zu 22 Monate einen Zuschuss von monatlich 260 Euro, bis zu maximal 5.720 Euro, erhalten. Mehr Informationen zur ESF+ Förderung „Fit for Work – Chance Ausbildung“ finden Sie hier

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Weiterführende Informationen

zum Stadtwerkeprojekt

zu den ausbildungsbegleitenden Hilfen, Informationen der Agentur für Arbeit

zum Projekt „Joblinge“