Selbst lernen statt „vorkauen“

PraxisInterviews

„Unsere ausrangierten Büromöbel zu entsorgen, ist nicht mehr zeitgemäß und nicht nachhaltig. Man könnte sie doch als Gebrauchtwaren verkaufen und den Erlös für einen guten Zweck spenden. – Frau Schröder, das wäre doch ein gutes Projekt für die Auszubildenden …“

So in etwa kam 2021 durch den Vorstand der Sievert SE ein Vorhaben in Gang, in dessen Folge sich die Organisation der Ausbildungen im Kaufmännischen- und im IT-Bereich erheblich verändert hat: Weniger klassisches Ausbilden, dafür eine intensive Mitarbeit im mitlerweile über fast drei Jahre fortgesetzten und ständig weiter ausgebauten Projekt „Sievert Market-Place“. Wir sprachen mit der verantwortlichen Ausbildungsleiterin, Charlene Schröder, über die Besonderheiten, die vielen positiven Effekte, aber auch über die Anlaufschwierigkeiten und die Wege, sie zu überwinden …
 

Frau Schröder, Projekte für die Auszubildenden, das machen viele Unternehmen. Was ist bei Ihnen im Hause anders? 

Charlene Schröder: Stimmt, auch bei uns gab es schon vorher verschiedene Projekte, zum Beispiel unter der Federführung einzelner Abteilungen. Bis dahin gab es aber immer eine Führungskraft als Projektleitung. Als ich die Aufgabe vor etwas mehr als drei Jahren übernommen habe, wollte ich an genau diesem Punkt konsequenter sein. Projekte in der Ausbildung dienen insbesondere dazu, die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung zu fördern. Das gelingt aber nur durch wirkliche Verantwortung. Also habe ich die Aufgabe komplett, mit allem, was dazu gehört, in die Hände der Auszubildenden gelegt. 

Im Endeffekt ist so etwas wie ein kleines internes eBay dabei herausgekommen. Da muss doch zum Beispiel die IT-Abteilung sagen, wo es lang geht und wie das aufzusetzen ist, oder?

Ja und nein – und dasselbe gilt auch für die vielen anderen Abteilungen, die in dem Projekt eine Rolle spielen, zum Beispiel für die Buchhaltung, die die ausgemusterten Möbel ausbuchen muss, bevor sie verkauft werden können. Oder für die Rechnungsabteilung, denn wer einen gerbrauchten Bürostuhl über den Sievert Market-Place kauft, muss auch eine Rechnung erhalten. Das Entscheidende ist, dass ich den Auszubildenden nichts vorgegeben habe. Die Auszubildenden haben sich alles selbst erarbeitet, das heißt: Sie haben sich selbst als Projektteam organisiert. Sie haben die verschiedenen Fragen und Projektschritte, die für die Realisierung des Sievert Market-Place erforderlich sind, selbst identifiziert, konkretisiert und strukturiert. Sie haben sich selbst um die Technik und das Design der Plattform gekümmert. Sie haben die erforderlichen Funktionen erprobt, optimiert und schlussendlich den Market-Place wie ein kleines Unternehmen im Unternehmen in Betrieb genommen. 

Um auf Ihre Frage genauer zu antworten: Natürlich haben mich die Auszubildenden gefragt, wie sie das mit der IT machen sollen. Ich habe ihnen aber nicht nur in dem Falle, sondern in allen Fragen, die im Projektteam aufgetaucht sind, keine Lösung vorgegeben, sondern lediglich bei der Lösungsfindung geholfen. Tatsächlich habe ich ja auch selbst gar nicht die IT-Kompetenz, die hier erforderlich gewesen wäre. Schon deshalb beschränkte sich meine Begleitung des Projektteams auf den Vorschlag: „Schreibt bitte alle Fragen auf, die beantwortet werden müssen. Dann überlegt ihr, welche Abteilungen für die einzelnen Fragen zuständig sind, und geht auf diese zu.“ Also haben sie sich einen Termin bei den Kolleginnen und Kollegen geben lassen und ihnen präsentiert, was geplant ist und wie sie sich das Ganze vorstellen. Auf der Basis haben sie dann die nächsten Empfehlungen erhalten und Hinweise, worauf zu achten ist. Bei Unstimmigkeiten oder Unklarheiten wussten sie, dass sie auf mich zukommen können. Grundlegend haben sie sich aber selbst organisiert. 

Hilfe zur Selbsthilfe – aber auch nicht mehr, könnte man das so zusammenfassen?

Ja, und hierbei kommt es uns wie gesagt darauf an, wirklich konsequent zu sein. Die Auszubildenden sollen selbst erleben, was im Unternehmen durch die aktive und selbst initiierte Zusammenarbeit mit den Abteilungen für sie alles möglich ist und wie sie zur Lösung kommen. Tatsächlich sind ja auch viele berufliche Aufgaben heute von einer solchen Art des Arbeitens geprägt, das ist die echte berufliche Praxis. Starre Arbeitsprozesse und vorgefertigte Lösungen treten immer weiter in den Hintergrund, darauf müssen und wollen wir unsere Auszubildenden vorbereiten. Die Auszubildenden spiegeln uns ihre Begeisterung, Teil eines solchen realitätsgerechten Projekts zu sein, auch zurück. Sie sind richtig stolz darauf, dass sie den Market-Place von A bis Z auf die Beine gestellt haben.  
 

Welche weiteren positiven Effekte können Sie noch feststellen?

Zunächst einmal haben wir einen neuen Blick auf die Potenziale unserer Auszubildenden entwickelt. Wenn wir ihnen Vertrauen schenken und ihnen etwas zutrauen, dann kommt auch Leistung zurück – sogar viel mehr, als wir zunächst erwartet hatten und viel mehr, als es in der „regulären Ausbildung“ sichtbar werden kann. Natürlich hat das erste Projektteam auch die bekannten Phasen der Teamarbeit durchlaufen, vom Norming zum Storming mit allem, was dazu gehört. Aber sie haben sich dann auch selbst wieder da herausgearbeitet, sich selbst Regeln gegeben und schließlich echt performt – dazu brauchte es nur wenige Anstöße von außen. Diese praktische Erfahrung ist mit theoretischem Erklären oder einem Rollenspiel nicht zu ersetzen. 

Dasselbe möchte ich auch für die Aspekte Selbstorganisation, selbstgesteuertes Lernen und Kommunikationskompetenz herausheben. Die Arbeit im Projekt gibt den Auszubildenden einen enormen Schub in ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Davon profitieren sie bei ihrer eigentlichen Ausbildung, die natürlich weiterhin im Mittelpunkt steht. Es profitieren aber ebenso alle weiteren direkt und indirekt an der Ausbildung beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen. Unsere Auszubildenden können etwas und denen kann, darf und soll man auch etwas zutrauen.

Sie haben gesagt: „das erste Projektteam“. Demnach hat sich bei den nachrückenden Jahrgängen etwas verändert? 

Die meisten Auszubildenden aus den Projektanfängen haben mittlerweile erfolgreich ihre Abschlüsse gemacht. Wir haben aufgrund der gesammelten Erfahrungen, und weil das Projekt natürlich auch weiterentwickelt werden sollte, den Einstieg der Nachrückenden beim Market-Place etwas verändert. Heute gehört eine Basis-Einführung in das Projekt durch die höheren Ausbildungsjahrgänge für alle beteiligten Auszubildenden fest zum Einstieg. Mittlerweile sind drei Teams Bestandteil des Projekts und verantworten die Bestandaufnahme, die Datenpflege und den Bestellprozess. Das Projekt hat sich im Laufe der Zeit so weit verselbstständigt, dass heute die Auszubildenden auf uns Ausbilderinnen und Ausbilder bzw. auf die Geschäftsleitung aktiv zugehen und ihre nächste Etappe für den Market-Place präsentieren. „Das ist unsere Idee, die würden wir folgendermaßen umsetzen, jetzt brauchen wir das ‚Go!‘“ – mehr kann man sich von engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern doch gar nicht wünschen.

Das hört sich alles sehr überzeugend an und funktioniert alles völlig reibungslos?

Die durch das Projekt und die feste Verankerung in der Ausbildung erzielten Effekte überzeugen tatsächlich alle – die Auszubildenden, unsere Ausbildungsteams für die verschiedenen Ausbildungsberufe, die Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter und nicht zuletzt die Geschäftsführung. Aber Sie haben recht, bis hierher haben wir einen Weg zurückgelegt, auf dem uns auch Widerstände begegnet sind.

Können Sie davon konkreter berichten? Und wie sind Sie mit den Widerständen umgegangen?

Bei den vorbereitenden Besprechungen im Kreis der Ausbilderinnen und Ausbilder gab es beispielsweise vereinzelt die Skepsis, ob denn so ein Projekt und die Art, wie wir es durchführen, nicht viel zu viel Zeit kostet und den Erfolg der eigentlichen Ausbildung gefährdet. Zu Beginn gab es außerdem bei manchen Abteilungen Fragen zu den Zuständigkeiten im Projekt, da es das erste Mal war, dass Auszubildende allein auf die Ansprechpartnerinnen oder Ansprechpartner zugegangen sind. 

Ich hatte jedoch großen Rückhalt vonseiten der Personalabteilung und vom Vorstand, denn die Begründung hat hier voll überzeugt: Wenn wir Eigenverantwortung fördern wollen, dann müssen wir auch ermöglichen, dass die Auszubildenden selbst erleben, was Eigenverantwortung heißt – mit allem, was dazugehört. Außerdem haben wir internes Marketing für das Projekt gemacht, um alle darauf einzustellen, dass die Auszubildenden für ihr neues Projekt selbstorganisiert und eigenverantwortlich unterwegs sind und das auch sein sollen. 

Als das Projekt startete, gab es dann – im Grunde wie erwartet – die Phase der Teamfindung. Hier war es für mich wichtig, diesen Part ohne Intervention laufen zu lassen, den Auszubildenden zu vertrauen und ihnen auch Zeit hierfür zuzugestehen. Umso mehr das Ganze dann Fahrt aufgenommen hat, desto mehr sind auch die Widerstände und Bedenken verflogen – ja sogar oft in Begeisterung umgeschlagen. Es sind einfach viele positive Effekte spürbar und sichtbar geworden. Haben die Auszubildenden überhaupt Zeit für so ein Projekt? Ja, die haben sie, wenn sie sich selbst organisieren können. Und wenn sie das gelernt haben, wirkt sich das auf die ganze weitere Ausbildung positiv aus. Können die Auszubildenden ihr Anliegen gegenüber Abteilungsleitungen oder gegenüber der Geschäftsführung angemessen und in ernst zu nehmender Weise präsentieren und vertreten? Ja, das können sie, wenn sie selbst darüber nachdenken und im Team diskutieren konnten, welche Anforderungen zu erfüllen sind und wie sie die erfüllen wollen. 

Wir haben mittlerweile an vielen Stellen die Organisation und den Ablauf der Ausbildung bei uns verändert, um unseren Auszubildenden möglichst frühzeitig die Mitwirkung in Projekten zu ermöglichen und ausreichend Zeit zu verschaffen. Die Auszubildenden im zweiten Ausbildungsjahr übernehmen eine Art Mentorfunktion für die im ersten Jahr, so stärken wir die Sozialkompetenzen und die Teamfähigkeit. Und wenn wir in die fachlichen Inhalte der Ausbildungsberufe einsteigen würden, könnte ich Ihnen noch viele weitere Punkte aufzeigen, bei denen wir zu einer neuen Art des Lernens und Ausbildens gekommen sind. Insgesamt können wir auf diese Weise die Erwartungen, die das Unternehmen an die Kompetenzen seiner zukünftigen Fachkräfte stellt, spürbar besser erfüllen – das ist doch der eigentliche Sinn von Ausbildung. 

Zum Schluss noch die Frage, was Sie anderen Ausbildenden empfehlen, die überlegen, für ihre Auszubildenden ein Projekt in ähnlicher Weise aufzusetzen? 

Meine wichtigste Empfehlung lautet: Vertraut Euren Auszubildenden! Traut ihnen etwas zu und gebt ihnen Zeit, eigene wirklich praxisrelevante Erfahrungen zu sammeln. Die Auszubildenden können Prozesse und Zusammenhänge viel besser verstehen und für die Praxis lernen, wenn sie selbst dafür zuständig sind. 

Frau Schröder, vielen Dank für die Einblicke und wertvollen Anregungen!

Zur Person

Charlene Schröder

  • 2014 Abschluss Bachelor in Betriebswirtschaftslehre an der FH Münster mit Schwerpunkt Personal und Marketing
  • 2016 Master in Psychologie & Management an der ISM in Hamburg mit Schwerpunkt Personal und Marketing
  • Verschiedene Praktika im Bereich Marketing und Personal
  • April 2017 bis Ende 2020 Start im Personalmanagement einer Bank – nebenbei verantwortlich für die Ausbildung
  • Seit 2021 als Business Partnerin Ausbildung & Young Talents hauptverantwortlich für die Ausbildung der Sievert Unternehmensgruppe deutschlandweit
  • 2021 Abschluss als Gepr. Kommunikations- und Rhetoriktrainerin der sgd Fernschule
     

Zum Unternehmen

Sievert SE

Die Sievert SE bietet ein breites Portfolio an Baustoffen und Produktsystemen für anspruchsvolle Bauprojekte sowie die für den Einsatz der Produkte passenden Logistiklösungen. Mehr als 1.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten derzeit an rund 60 Standorten für Sievert. Um den hohen Bedarf an qualifizierten Nachwuchsfachkräften decken zu können, bietet das Unternehmen Auszubildenden, Werkstudenten und Praktikanten zahlreiche Möglichkeiten für ihren Berufseinstieg. 

Am Projekt Marketplace beteiligte Auszubildende sind angehende: 

  • Industriekaufleute
  • Fachinformatikerinnen und Fachinformatiker für Systemintegration
  • Fachinformatikerinnen und Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung
  • Kaufleute für Büromanagement
  • Kaufleute für Marketingkommunikation
  • Dual Studierende Betriebswirtschaftslehre
  • Dual Studierende Wirtschaftsinformatik

Darüber hinaus bildet die Sievert SE Jugendliche und junge Erwachsene in diesen Berufen aus: 

  • Baustoffprüfer/-in
  • Berufskraftfahrer/-in 
  • Elektroniker/-in
  • Verfahrensmechaniker/-in
  • Industriemechaniker/-in
  • Fachkraft für Lagerlogistik
  • Kaufmann/-frau für Spedition und Logistikdienstleistung
     

Ausführlicher Informationen zum Unternehmen finden Sie hier 

 

Weiterführende Informationen

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Wieviel Ausbilder/-in ist erlernbar? Fast alles, meint einer, der es wissen muss und betont: Auch Ausbildende lernen nie aus!

Gelebte Werte in der Ausbildung - sind Gold wert.