Wir müssen reden! Unternehmen mit Berufsschulen und umgekehrt

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Der demografische Wandel, ein ungebrochener Trend zum Studium und dann noch Corona, schon diese drei Stichwörter genügen, um darauf hinzuweisen, dass Ausbildungsplätze immer öfter nicht besetzt werden können. Die duale Ausbildung als eines der wichtigsten Instrumente für den Nachschub an qualifizierten Fachkräften ist in den letzten Jahren, nicht erst durch die Pandemie, zunehmend unter Druck geraten. Wir sprachen mit der Berufsbildungsforscherin Prof. Dr. Esther Winther darüber, welche Entwicklungen zu dieser Situation geführt haben und mit welchen Maßnahmen nicht nur die Unternehmen gegensteuern können. Von zentraler Bedeutung ist ihrer Ansicht nach die sogenannte Lernortkooperation, also die Zusammenarbeit der beiden Ausbildungsorte „Ausbildungsbetrieb“ und „Berufsschule“, die in der Bezeichnung „duale“ Ausbildung zusammenkommen.

Frau Prof. Dr. Winther, Lernortkooperationen sind ein Schlüssel, um die kritische Lage, in der sich die duale Ausbildung befindet, wieder zum positiven zu verändern?

Prof. Dr. Esther Winter: Zugegeben, das klingt im ersten Moment nicht so richtig spannend. Aber wir müssen den wissenschaftlich nachgewiesenen Befunden zu dem Thema zu neuer Geltung verhelfen, wenn wir die Ausbildung wieder stark machen wollen. Tatsächlich wissen wir es seit dem Ende der 1970er Jahre: Je besser die Lernortkooperation in der Praxis der ausbildenden Unternehmen und der Berufsschulen funktioniert, desto besser ist die Qualität der Ausbildung.

Qualität ist aber doch recht unspezifisch.

Eine funktionierende Lernortkooperation steigert die Ausbildungsqualität in zwei entscheidenden Punkten.

Erstens, was das emotionale Erleben der Auszubildenden angeht: Die Azubis fühlen sich signifikant besser betreut, wenn Ausbildungsbetrieb und Berufsschule sich aktiv darum kümmern, dass sie ihre Ausbildung erfolgreich absolvieren. Dieses emotionale Erleben bestimmt maßgeblich, ob sich Jugendliche anerkannt und wertgeschätzt fühlen, wie weit sie in ihre Ausbildung persönlich involviert sind und in einer lebendigen Beziehung zu den Ausbildenden und Lehrenden an der Berufsschule stehen, kurz gesagt: Ihre persönliche Identifikation und Leistungsbereitschaft hängen von diesem emotionalen Faktor ab.

Zweitens: Eine funktionierende Lernortkooperation trägt dazu bei, die objektive Qualität der Ausbildung zu steigern, das heißt die Lernergebnisse, die vermittelten fachlichen und persönlichen Kompetenzen. Die Zusammenarbeit stärkt das ausbildende Personal im Betrieb und die Lehrenden an den Berufsschulen: Beide Seiten machen ihren Job automatisch besser.

Diese beiden Befunde einer emotionalen und objektiven Steigerung der Ausbildungsqualität durch aktive und lebendige Lernortkooperationen sind wissenschaftlich evident und durch zig Studien umfassend validiert.

 

Sollte das nicht ohnehin allen Beteiligten klar sein?

Ich bin sehr viel vor Ort in Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben zu Besuch und komme immer auf die gleiche Frage zurück: Wie können wir die Lernortkooperation konkret besser machen? Diese Frage ist ein Dauerbrenner, denn in ihr spiegelt sich im Grunde die gesamte Transformation der Arbeitswelt, die wir in nahezu allen Branchen und Unternehmen beobachten und mit der wir uns natürlich auch selbst auseinandersetzen müssen.

Können Sie das etwas genauer erklären?

Starten wir beim Stichwort „Digitalisierung“. Sie führt zu einer fortschreitenden Spezialisierung der Unternehmen und ihrer Geschäftsmodelle und zugleich vieler hierfür erforderlicher Tätigkeiten am einzelnen Arbeitsplatz. Die Berufsbildung kann hier kaum Schritt halten, sie geht noch immer vor allem auf die Breite von Kompetenzprofilen und das wiederum führt zu zwei Effekten.

Je mehr die Spezialisierung voranschreitet, desto weniger braucht die Ausbildung in ihrer gesamten Breite das Niveau, das in den Ausbildungsordnungen vorgeschrieben ist. Viele Tätigkeiten sind heutzutage in den Unternehmen aufgrund digitaler Werkzeuge viel simpler zu erledigen. Denken Sie nur einmal an eine Angebotserstellung. Dafür gibt es heute Softwaretools, in denen alle Produktionskosten, Lieferantenkonditionen, Lagerbestände usw. tagesaktuell hinterlegt sind – mit wenigen Klicks ist Ihr kundenindividuelles Angebot fertig. Das bedeutet, dass Auszubildende in einem gewissen Sinne an vielen Stellen überqualifiziert sind und darauf reagieren die Unternehmen verständlicherweise. Entweder halten sie die Qualifizierung ihrer Auszubildenden in solchen Bereichen bewusst flach, weil es für sie vergeudete Liebesmüh ist, sich damit intensiv auseinanderzusetzen. Oder aber es wird an einzelnen ganz genau definierten Punkten am Topniveau festgehalten, doch eher mit dem Gedanken der Prävention, falls es doch einmal ein Problem geben sollte und eine Maschine ausfällt, ein wichtiger Mitarbeiter wird krank, so in der Art. In beiden Fällen ist es aber für die Auszubildenden und für die Lehrenden in den Berufsschulen sehr schwer, den Bezug zur Praxis und damit den Sinn der Ausbildungsinhalte positiv zu besetzen, das führt unweigerlich zu Frust.

Der zweite Effekt, der im Zuge der Digitalisierung offenkundig ist, besteht in der zunehmenden Spezialisierung der Arbeitsmittel. Das konnte man in den beiden Pandemiejahren wie im Zeitraffer noch einmal beobachten. Jedes Unternehmen hat für sich entschieden, welches Tool für Videomeetings zum Einsatz kommt: Zoom, Teams, GoTo Meeting, Skype, WebEx … genauso haben sich die Unternehmen aber schon über Jahre hinweg beispielsweise für bestimmte Maschinensysteme oder Branchensoftware entschieden, etwa SAP oder AutoCAD. Auch diese Spezialisierungen kann keine Berufsschule abbilden. Vielmehr gilt hier weiterhin das Primat der umfassenden Ausbildung, die keinem System einen Vorzug gibt und für jedes Unternehmen gleiche Kompetenzen vermittelt – und damit an der Arbeitsrealität vorbeigeht.

Würden Sie sagen, dass die betriebliche Praxis und die Ausbildung auseinanderdriften?

Wir beobachten auf jeden Fall, dass das an sich gut gedachte System der dualen Ausbildung zusehends erodiert. Viele Unternehmen setzen auf den Trend der zunehmenden Anzahl von Hochschulabsolventen, die Ausbildung läuft mitunter nur noch nebenbei mit. Es ist viel von dem früheren eigenen Anspruch und Stolz des „Wir bilden aus!“ auf der Strecke geblieben. Dadurch, dass die Digitalisierung und Spezialisierung der Unternehmen immer weitergehen, differenziert sich auch das Kerngeschäft immer stärker und das wiederum verstärkt die Erosion. Für viele Auszubildende bedeutet das: Entweder ist ihre Ausbildung top, weil der Ausbildungsbetrieb Eigeninitiative entwickelt hat, um die Ausbildung weiterzuentwickeln, oder leider ein Flop. Die Berufsschulen können diese Entwicklung, die sich in der gesamten Wirtschaft vollzieht, jedenfalls nicht auffangen. Die Spezialisierung setzt sich fort, die Lernortkooperation fehlt, beiden Seiten fehlen Informationen, was eigentlich beim jeweils anderen wirklich stattfindet: Wie läuft es heutzutage in der Berufsschule? Wie läuft es heutzutage im konkreten einzelnen Unternehmen? Die Leistung der Auszubildenden sinkt, ihre Motivation gleich mit, was zu einer nochmaligen Verstärkung der Erosion des dualen Systems insgesamt führt.

Das ist ja eine düstere Diagnose. Aber was können Ausbilderinnen und Ausbilder denn nun konkret tun, wenn sie diesen Entwicklungen nicht einfach zusehen wollen?

Hingehen! Die Ausbilderinnen und Ausbilder sollten aktiv das Gespräch mit den Lehrerinnen und Lehrern der Berufsschulen suchen und ihre Erwartungen formulieren. Oder die Lehrenden in den Betrieb einladen. Dieser gesamte Austausch ist schon vor der Pandemie selten geworden, aber während der letzten beiden Jahre nahezu vollständig zum Erliegen gekommen.

Das heißt, es gab einmal Zeiten, in denen das anders war?

Ende der 1980er Jahre standen die duale Ausbildung und das Thema Lernortkooperation im politischen Fokus. Es waren wirtschaftliche Krisenzeiten gepaart mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit, da war es wichtig, die Unternehmen zu stärken und Jugendlichen durch Ausbildung eine Perspektive zu bieten. Dann ist das Wirtschaftswachstum wieder in Gang gekommen, die Lernortkooperation ist aus dem Fokus geraten und man kam zu der Überzeugung, dass sich das System vor dem Hintergrund dieser positiven Erfahrungen nun weiterhin selbst regeln werde. Parallel dazu sind aber andere Entwicklungen immer stärker geworden: die Akademisierung, die digitale Transformation und die Spezialisierung. Heute wäre ein Weckruf wirklich nötig.

Zurück zur heutigen Praxis, wie kann man sich eine zeitgemäße Lernortkooperation vorstellen?

Wie wichtig das Netzwerken in der heutigen Arbeitswelt ist, braucht man eigentlich gar nicht mehr zu erklären. Dabei ist die fachliche Ebene das eine, der informelle Austausch aber das absolut essenzielle für den Erfolg von Zusammenarbeit im Netzwerk. In der digitalen Kommunikation, die durch die Pandemie-Bedingungen einen enormen Schub erhalten hat, fällt diese informelle Ebene nahezu aus. So ziemlich jede und jeder weiß heute, wie schwierig es ist, am Bildschirm beruflich „zu plaudern“, die nonverbale Komponente ist erheblich eingeschränkt, es gibt nur wenig Raum für Spontaneität, das alles ist hinlänglich bekannt. Wir sehen also, dass sich die Kommunikationskultur erheblich verändert, sollten das aber genauer beschreiben: Die Effizienzkultur nimmt stetig zu, die Vertrauenskultur nimmt ständig ab. Was bedeutet das für die Lernortkooperation? Die Akteure in den Unternehmen, in den Berufsschulen und vielleicht auch in den IHKs bzw. Handwerkskammern, die für die Ausbildung bzw. die Ausbildungsprüfungen zuständig sind, sollten so oft es geht und vor allem regelmäßig persönlich miteinander sprechen – in Präsenz. Ziel sollte es sein, eine lebendige und aktive „Community of Practice“ zu schaffen.

Ausbildende und Lehrende der Berufsschulen finden sich in einer Community of Practice zusammen, und tun dann was zum Beispiel?

Es gibt im Grunde unendlich viele Möglichkeiten, die sich aus den konkreten Konstellationen ergeben. Ich gebe Ihnen einige Beispiele.

Ausbilderinnen und Ausbilder sollten direkte praktische Aufhänger nutzen und die Lehrenden entsprechender Fachbereiche in ihre Unternehmen einladen, wenn beispielsweise eine neue Maschine oder Software angeschafft wurde oder wenn Arbeitsprozesse neu organisiert wurden. Damit signalisieren sie: „Wir wollen Euch das einmal zeigen. Es ist wichtig, dass Ihr versteht, was bei uns im Unternehmen vor sich geht und womit es unsere Azubis zu tun haben“.  Das Gleiche gilt natürlich auch andersherum. Die Lehrenden sollten die Ausbildenden in die Berufsschule einladen und über laufende Projekte und deren Ergebnisse informieren, am besten sogar mit Beteiligung der Auszubildenden, denn die sollen erleben, dass der Ausbildungsbetrieb und die Berufsschule am gleichen Strang ziehen. Alles, was außergewöhnlich ist, lässt sich für beide Seiten didaktisch nutzen, um daraus spannende Lehr- und Trainingseinheiten zu entwickeln.

Neben solchen Leuchtturmprojekten kann sich die Community of Practice auch mit der Lösung gemeinsamer Probleme und Herausforderungen beschäftigen. Da zeigt sich sehr schnell, dass niemand alleine ist, die anderen haben dieselben Schwierigkeiten. Wie rekrutieren wir neue Auszubildende? Wie gestalten wir die Lernprozesse modern und jugendgerecht? Wo und wie macht Digitalisierung in der Ausbildung Sinn? Wie gehen wir mit den Veränderungen der Jugendkultur um?

Ehrlich gesagt klingt das nun verblüffend simpel und pragmatisch – man braucht ja noch nicht einmal eine spezielle App dazu ;-))

Machen wir uns nichts vor, eine Community of Practice entsteht nicht von alleine, sie braucht persönliches Engagement, den Willen zum Dialog und das Interesse an der anderen Seite. Auch das ist Arbeit, die Zeit kostet und vor allem am Anfang nicht einfach in die bestehenden Strukturen integriert werden kann. Doch genau dahin müssen wir kommen. Die Lernortkooperation bzw. die Arbeit in der Community of Practice sollte ganz selbstverständlich dazu gehören, denn dann entfaltet sie ihre immense Wirkung zu Gunsten der Qualität und Zukunftsfähigkeit der dualen Ausbildung. Es wird in den Unternehmen viel investiert, auch im Bereich der Ausbildung – doch hier fließt die Investition am besten in die Lernortkooperation, denn das ist nachweislich wirksam und wahrscheinlich oft sogar billiger als manch teure Ausbildungskampagne, bezahlte Smartphones, Laptops und sonstige digitale Spielereien.

Frau Prof. Dr. Winther, herzlichen Dank für Ihre Expertise und die praxisnahen Tipps.

Lernortkooperation: Tipps zusammengefasst für Ausbildende und Lehrende

  • Initiieren und (idealerweise) institutionalisieren Sie den persönlichen Dialog zwischen Ausbildenden und Lehrenden.
  • Schaffen Sie ein Netzwerk der Community of Practice.
  • Stellen Sie Innovationen Ihres Unternehmens bzw. Ihrer Berufsschule in der Community vor.
  • Arbeiten Sie in der Community gemeinsam an Maßnahmen zur Lösung von Problemen/Herausforderungen, die viele andere Mitglieder der Community ebenfalls haben.
  • Machen Sie Ihren Auszubildenden erlebbar, dass Ausbildende und Lehrende gemeinsam für eine zeitgemäße, qualitativ hochwertige Ausbildung und für den Erfolg der Auszubildenden arbeiten (emotionale und fachliche Qualität der Ausbildung).
  • Sichern Sie sich die Unterstützung Ihrer Geschäftsleitung bzw. Berufsschulleitung und verdeutlichen Sie, dass für die Arbeit an und in der Lernortkooperation in einem gewissen Umfang zeitliche und ggf. auch finanzielle Ressourcen umverteilt werden sollten, um einen maximalen Erfolg zu erzielen.

 

Zur Person

Prof. Dr. Esther Winther

Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Berufs- und Weiterbildung (IBW) der Fakultät für  Bildungswissenschaften und
Leiterin des Kompetenzzentrums für Innovation und Unternehmensgründung (IDE) an der Universität Duisburg-Essen

WERDEGANG

Studium der Wirtschaftspädagogik, Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre (1998 bis 2003) und Promotion (2005) an der Georg-August-Universität Göttingen, Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin (2010), Lehre an verschiedenen internationalen (u. a. Stanford University, University of California, Berkeley) und nationalen Universitäten (u. a. Georg-August-Universität Göttingen, Universität Paderborn), Leitung des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung, Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen e. V. (DIE)

KURZVORSTEL LUNG

Frau Prof. Dr. Winthers Forschungsschwerpunkte liegen vor allem in den Bereichen der empirischen Berufsbildungsforschung und hier insbesondere auf den Gebieten der psychometrischen Kompetenzmodellierung und -messung, der Entwicklung von Trainings- und Weiterbildungsprogrammen sowie der Konzeption innovativer und digitaler Lehr- und Lernszenarien für berufliche und betriebliche Handlungsfelder.

Als Mitwirkende an europäischen Projekten erforscht sie Innovationspotenziale an der Schnittstelle von Universitäten und (regionalen) Ökosystemen, um Impulse für das Management von Bildungseinrichtungen und für die Professionalisierung des Bildungspersonals geben zu können.

Als Projektnehmerin in großen nationalen Forschungsverbünden (DFG-Schwerpunktprogramm, SAW Forschungsförderung, Forschungsinitiativen des BMBF ASCOT sowie ASCOT+) entwickelt sie innovative und arbeitsplatznahe Assessments, die den Status Quo und die absehbare Entwicklung beruflicher Kompetenzen erfassen.

KONTAKT

Prof. Dr. Esther Winther

Universität Duisburg-Essen
Fakultät für Bildungswissenschaften
Institut für Berufs- und Weiterbildung

Universitätsstraße 2
45141 Essen