Nachteilsausgleich - Kompetenzen beweisen können

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Im Jahr 2014 betrug der Unterschied der Erwerbstätigenquote zwischen Menschen mit und ohne Behinderung Minus 20,6 Prozent (Quelle: Eurostat). Damit lag Deutschland in Sachen Inklusion in der Arbeitswelt nicht gerade auf einem der vorderen Plätze in Europa. Weil aber der Fachkräftemangel branchenübergreifend immer massiver zu spüren ist, öffnen sich mittlerweile immer mehr Unternehmen der Ausbildung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung und erkennen, dass hier oftmals besonders motivierte und leistungsbereite Talente zu finden sind.

Klar sehen

Wer sich vor Augen führt, wie unterschiedlich Behinderungen sein können – körperliche Beeinträchtigung, psychische Behinderung, chronische Erkrankung usw. –, merkt schnell: Man muss es sich, wie bei Bewerberinnen und Bewerbern ohne Behinderung auch, einfach sehr genau anschauen, wie eine gute Passung zwischen Jobprofil und Mensch zu erzielen ist. Oft sind lediglich kleine Anpassungen des vorgesehenen Arbeitsplatzes und/oder der technischen Ausstattung erforderlich, für die es zudem Fördergelder und Zuschüsse gibt. Sachlich betrachtet steht dann der Ausbildung oder Beschäftigung einer Bewerberin bzw. eines Bewerbers mit Behinderung eigentlich nichts weiter im Wege – außer vielleicht subjektive „Berührungsängste“ oder Vorbehalte, die sich in der Praxis meist in kürzester Zeit in Luft auflösen.

Wer unsicher ist, sollte im ersten Schritt das kostenfreie Beratungsangebot der Bundesagentur für Arbeit nutzen. Hier finden sich alle grundsätzlich wichtigen Informationen sowie eine persönliche Beratungshotline, die selbstverständlich auch erläutern kann,

  • welche Fördergelder für die Anschaffung erforderlicher Arbeitsmittel oder für die Umgestaltung eines Arbeitsplatzes zur Verfügung stehen,
  • wie ggf. auch die Ausbildungsvergütung gefördert wird und
  • wie ggf. die Programme zur Einstiegsqualifizierung und zur assistierten Ausbildung funktionieren, um Jugendliche mit Behinderung Schritt für Schritt ins Berufsleben zu integrieren.
     

Vollwertige Leistung mit vollwertigem Abschluss

Soweit die organisatorischen Herausforderungen auf Unternehmensseite. Doch was ist mit den formalen Kompetenznachweisen wie zum Beispiel den Zwischen- und Abschlussprüfungen bei der Ausbildung und vielleicht auch späteren Fortbildungsprüfungen?

Damit Menschen mit Behinderung ihren ganz regulären Ausbildungs- bzw. Fortbildungsabschluss erzielen können, gibt es den sog. Nachteilsausgleich.

  • Er stellt keine „Begünstigung“ oder Vereinfachung der Prüfungsanforderungen dar, sondern kompensiert lediglich die behinderungsbedingten Nachteile gegenüber Menschen ohne Behinderung.
  • Qualitativ bleiben die Prüfungsanforderungen exakt identisch – der Abschluss ist der Abschluss, ohne Wenn und Aber.

     

Wie funktioniert der Nachteilsausgleich?

Die bzw. der Auszubildende muss bei der für die Prüfung zuständigen Stelle, in der Regel die für den Berufsabschluss zuständige IHK, mit der Anmeldung zur jeweiligen Prüfung einen Antrag auf Nachteilsausgleich stellen.

Gleiches gilt für Fach- und Führungskräfte, die eine öffentlich-rechtliche Fortbildungsprüfung wie zum Beispiel den Betriebswirt bei einer IHK ablegen wollen. Auch sie müssen spätestens mit ihrer Anmeldung zu Prüfung den Antrag stellen.

Nachteilsausgleiche können zum Beispiel sein:

  • Gewährung von zusätzlicher Zeit für die Bearbeitung von Prüfungsaufgaben
  • Bereitstellung technischer Hilfen wie Seh-Hilfen, Vergrößerung der Aufgabensätze usw.
  • Hilfen bei der Prüfungssprache, indem eine hinzugezogene Person die Aufgabe vorliest.
  • Hilfen durch eine Vertrauensperson oder einen Gebärden-Dolmetscher usw.
     

Was enthält der Antrag auf Nachteilsausgleich?

1.

Den Nachweis eines Anspruchs auf Nachteilsausgleich
zum Beispiel durch den Schwerbehindertenausweis (Kopie) oder ein ärztliches Attest.

2.

Die detaillierte Beschreibung der notwendigen Nachteilsausgleiche

WICHTIG: Die behandelnde Ärztin bzw. der behandelnde Arzt sollte genau und für jeden Prüfungsbereich einzeln beschreiben, wie der Nachteilsausgleich erfolgen soll.
 

BEISPIEL: „Für den Abschluss im Beruf XY wird im schriftlichen Prüfungsbereich eine Zeitverlängerung von … Minuten beantragt.
Für die mündliche/praktische Prüfung wird eine Zeitverlängerung von … Minuten beantragt.“

TIPP

Für die Praxis empfehlen wir, dass die Ausbilderin bzw. der Ausbilder und die Ärztin bzw. der Arzt diese differenzierte Darstellung der beantragten Nachteilsausgleiche miteinander abstimmen, sofern es das Vertrauensverhältnis der bzw. des Azubis mit diesen beiden wichtigen Personen zulässt.
Warum? Weil die Ausbilderin bzw. der Ausbilder der Ärztin bzw. dem Arzt die in der Prüfung zu erwartenden Anforderungen erläutern und auf Erfahrungen zurückgreifen kann, über die die bzw. der Auszubildende zu diesem Zeitpunkt gar nicht verfügen kann.

3.

Mindestens eine Stellungnahme, besser mehrere.
Standard ist eine mit dem Antrag vorzulegende Stellungnahme des Ausbildungsbetriebes (im Falle einer Fortbildung des Bildungsträgers), die die beantragten Nachteilsausgleiche begründet:

BEISPIEL: „Die Beeinträchtigung der Hände von Herrn XY bringt es mit sich, dass er für das Schreiben spürbar länger braucht. Für die schriftlichen Prüfungsteile sollte ihm deshalb mehr Zeit zugestanden werden.“

Die Stellungnahme sollte zudem auch Erfahrungen aus der Ausbildung beschreiben und kurz darstellen, welche Nachteilsausgleiche im Betrieb bzw. in der Berufsschule gewährt wurden.

Über diese Stellungnahme des Ausbildungsbetriebes hinaus können gerne weitere Stellungnahmen mit dem Antrag vorgelegt werden: zum Beispiel der Berufsschule oder weiterer Stellen wie Vereine oder Interessensvertretungen.

TIPP

Die IHKs stehen Auszubildenden, die einen Antrag auf Nachteilsausgleich stellen wollen, und ihren Ausbilderinnen und Ausbildern gerne beratend zur Verfügung. Auch deshalb empfehlen wir, frühzeitig Kontakt mit der zuständigen Stelle aufzunehmen und abzustimmen, was für Anforderungen bestehen und wie sie erfüllt werden können.
 

Was passiert nach dem Einreichen des Antrags?

Die IHK prüft die Unterlagen und entscheidet dann, ob der Antrag

  • genehmigt,
  • in veränderter Form genehmigt oder
  • abgelehnt wird.

Ist der Antrag genehmigt, organisiert die zuständige Stelle die Prüfung einschließlich der Nachteilausgleiche, das bedeutet: Die IHK stellt ggf. einen zusätzlichen Raum zur Verfügung, sie stimmt verlängerte Prüfungszeiten mit den Prüfenden bzw. den Prüfungsaufsichten ab usw.

HINWEIS: Die Vertrauensperson bzw. der Gebärdendolmetscher müssen vom Antragsteller selbst organisiert (bestellt) werden.

Zum Schluss …

… muss die bzw. der Auszubildende die Genehmigung des Antrages mit zur Prüfung bringen und kann dann ihre bzw. seine in der Ausbildung erworbenen Kompetenzen unter Beweis stellen.

Noch einmal: Im Kopf wissen wir alle, dass man Menschen mit Behinderung nicht auf ihre Behinderung reduzieren, sondern ihre Potenziale ebenso zur Entfaltung bringen sollte, wie bei Menschen ohne Behinderung. Wenn wir als Gesellschaft händeringend nach Nachwuchsfachkräften suchen, ist es ziemlich ignorant, die Talente von Menschen mit Behinderung links liegen zu lassen. Es ist an der Zeit, dass Unternehmen, Ausbildungs- und Personalverantwortliche diese Situation neu bewerten und als Chance verstehen: Mehr Inklusion am Arbeitsplatz bedeutet mehr Fachkräfte im Betrieb, mehr Leistungsfähigkeit des Unternehmens und mehr Erfolg für alle Beschäftigten.

 

Weiterführende Links

Service-Seite der Bundesagentur für Arbeit

Ausbildung in Teilzeit: Wenn Jugendliche aufgrund einer Behinderung mehr Zeit benötigen.

Tipps für die Ausbildung von Azubis mit Behinderung

Die Ausbildungsberatungen der bayerischen IHKs

Budget für Arbeit - Infobroschüre