Modular und digital und alles ist gut?

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Demografischer Wandel, Digitalisierung, Corona-Pandemie … Alles das verändert die Weiterbildung: Sie wird digitaler, flexibler, modularer, individueller und dynamischer (vgl. auch Lernreich-Artikel Tapas statt 5-Gänge-Menü). Wird damit auch alles besser? Um mehr Klarheit und ein differenzierteres Bild zu gewinnen, haben wie einmal Pro und Contra gegenübergestellt.

Vorweg zur Einordnung: Das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KoFa) hat im März 2022 einen neuen Höchststand von gut 558.000 offenen Stellen verzeichnet, für die es „bundesweit keine passend qualifizierten Arbeitslosen“(1) gibt. Die Arbeitsmarktexperten heben hervor: „Je höher das Qualifikationsniveau, desto höher ist der Anteil an offenen Stellen, welche nicht besetzt werden können.“(1) Auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK e. V.) fasst im DIHK-Fachkräftereport 2021 die Folgen durch fehlende Fachkräfte für die Unternehmen in Deutschland zusammen: „85 Prozent der Betriebe erwarten negative Effekte infolge von Fachkräfteengpässen, Aufträge gehen verloren und die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit stehen auf dem Spiel.“ (2)

Vor diesem Hintergrund wird klar, warum der Stellenwert der Weiterbildung immer mehr steigt und dementsprechend auch immer mehr Bewegung in die Bildungsformate kommt. Die Frage lautet: Wie muss die kontinuierliche Weiterbildung aller Beschäftigten, von 15 bis 75 Jahren, von der Hilfskraft bis zum Top-Management gestaltet werden? Wie gelingt lebenslanges Lernen, das die wichtige Voraussetzung für den Erhalt unseres Wohlstands ist? Zumindest einige Trends sind erkennbar: Die Weiterbildung wird (siehe oben) digitaler, flexibler, modularer, individueller und dynamischer – doch sind diese Entwicklungen überhaupt zielführend?

Weiterbildung wird digitaler

PRO

  • Junge Menschen wachsen heute mit den digitalen Medien auf. Für sie gehören digitale Helfer zum Alltag. Deshalb ist es naheliegend, auch die Lernmethoden und -angebote entsprechend weiterzuentwickeln und Lerninhalte zielgruppengerecht – eben auch digital – anzubieten.
  • Digitale Lernformate eignen sich besonders bei Lerninhalten rund um IT-Themen. Damit könnte ein für die Wirtschaft aktuell wichtiger Bedarf besser gedeckt werden: Laut DIHK-Fachkräftereport 2021 sehen Unternehmen die künftigen Herausforderungen vor allem in der erfolgreichen Umsetzung von Klimaschutz und Digitalisierung (2).
  • Aber auch digitale Lerneinheiten mit anderen Lerninhalten fördern automatisch die digitale Kompetenz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, schon allein, indem sie während des Lehrgangs digital kommunizieren, networken und üben.
  • Digitale Formate bieten zudem ein erweitertes und zeitgemäßes didaktisches Instrumentarium.

CONTRA

  • Digital affin sind vielleicht die jüngeren Generationen. Doch werden dadurch nicht die älteren Zielgruppen abgehängt, weil sie den Umgang mit digitalen Medien oft nicht aus dem Effeff beherrschen und digitale Lernformate sie eher abschrecken? Denn wer im Umgang mit digitalen Medien nicht so geübt ist, hat eine zusätzliche Lernhürde zu überwinden.
  • Digital heißt auch nicht, dass die Lerninhalte zwangsläufig besser vermittelt werden. Nur wenn konsequent die Medienvorteile wie Medienvielfalt, Visualisierung oder Interaktionsmöglichkeit bespielt werden, lassen sich Vorteile erreichen. Die persönliche Ansprache ist aber nicht so einfach zu ersetzen.
  • Digitale Lernformen setzen nicht zuletzt voraus, dass jeder die entsprechende Technik zur Verfügung hat. Gerade bei schlecht ausgebildeten Menschen, die oft auch in prekären Situationen leben, ist eine gute „IT-Ausstattung“ eher Luxus. Wer sich das nicht leisten kann, dem bleibt eigenverantwortliche digitale Berufsbildung somit verschlossen – obwohl Weiterbildung gerade für diese Menschen am wichtigsten wäre – verschenktes Fachkräftepotenzial.
     

Weiterbildung wird flexibler und zeit- und lernortunabhängig

PRO

  • Lernende können jederzeit und an jedem beliebigen Ort ihre Lerneinheit „tanken“, ohne das Alltagsgeschäft liegen lassen zu müssen. Damit kommt für wesentlich mehr Menschen eine Weiterbildung infrage, es entfallen An- und Abfahrten, das Lernen ist mit der Familie und der Freizeitgestaltung besser vereinbar und schont zudem die Umwelt.
  • Ein weiterer Vorteil ist, dass die Lerninhalte auch so oft wiederholt werden können, wie es für den optimalen Lernerfolg notwendig ist. Das sogenannte „Konservenlernen“ bietet für jeden Einzelnen das größtmögliche Maß an Flexibilität. Bei Präsenzveranstaltungen erhält man dagegen einmal das geballte Know-how, um es später im Arbeitsalltag anwenden zu können. Doch genau hier entstehen oft erst die eigentlichen Fragen zum neuen Stoff, mit der Folge, dass das Gelernte bald wieder vergessen wird.
     

CONTRA

  • Seien wir ehrlich: Passgenaue Weiterbildung am Arbeitsplatz ist doch in der Realität eher ein schönes Wunschdenken. Häufig kommen doch andere Prioritäten mal schnell dazwischen, wenn beispielsweise Vorgesetzte einen dringenden Auftrag haben, jemand einfach ins Büro platzt oder der Eingang einer E-Mail die ganze Aufmerksamkeit „abzieht“.
  • Wer dagegen seinen Arbeitsplatz verlässt und sich seine Bildungszeit gönnt, kann sich maximal auf das Lernen konzentrieren. Eine Präsenzveranstaltung ist eine solche klare Zäsur, die eine entsprechende Lernumgebung bietet.
  • Natürlich kann man beim flexiblen Lernen auch unterwegs oder zuhause lernen. Aber welche Qualität beispielsweise das „Lernen in der U-Bahn“ hat, ist noch nicht ausgemacht.

Weiterbildung wird modularer

PRO

  • Kleine Lerneinheiten können Lernwillige besser abarbeiten und auch verarbeiten. Modulare Lerneinheiten bieten die Möglichkeit, an einem Thema dranzubleiben, ohne die Praxis und die Anwendungskompetenz aus den Augen zu verlieren. Die Lerneinheit kann sofort umgesetzt werden. Erst wenn das sitzt, geht es im Stoff weiter.
  • Zudem bieten modulare Lerneinheiten die Chance, mehr Interessierte zu erreichen. Gerade Menschen, die sich mit dem Lernen schwertun, finden hier kleine überschaubare „Happen“, die sie nicht abschrecken, den ersten Schritt hin zu einer höheren Qualifizierung zu gehen.
  • Wer dagegen bereits über erste Teilkompetenzen verfügt, kann sein Know-how ganz gezielt mit den noch fehlenden Lerneinheiten vervollständigen. Damit können sich mehr Menschen schneller neue Kompetenzen aneignen

CONTRA

  • Modular ist zwar schön, aber wenn hinter den einzelnen Lerneinheiten kein sinnvolles Gesamtkonzept steht, eignet man sich im besten Fall ein diffuses Halbwissen an, ohne am Ende eine anerkannte Qualifikation zu erreichen. Im schlimmsten Fall führt die unglaubliche Vielfalt an Angeboten dazu, dass sich Lernwillige am Ende zu gar nichts entschließen können.
  • Wenn die zeitlichen Abstände modularer Lerneinheiten zu groß werden, besteht die Gefahr, dass größere Zusammenhänge am Ende nicht verstanden und überblickt werden.
  • Komplexe Lerninhalte und interdisziplinäres Denken sind zudem viel schwieriger in einem modularen Aufbau zu integrieren und kommen im schlimmsten Fall zu kurz. Für bestimmte Qualifikationen wäre dies sicher nicht nur für die Lernenden ein großer Nachteil, sondern auch für die Unternehmen, die dringend nach qualifizierten Fachkräften suchen.
     

Weiterbildung wird individueller

PRO

  • Mehr Vielfalt ist auf keinen Fall ein Fehler: Denn es gibt unterschiedliche Lerntypen, die auf verschiedene Lernformen ansprechen. Während der eine lieber für sich lernt und den Stoff lesend verarbeiten will, der Nächste am liebsten Videos anschaut, braucht der Dritte sozialen Kontakt und ein festes Team, mit dem er lernen kann.
  • Durch die Ausdifferenzierung der Angebote können die individuellen Bedürfnisse besser befriedigt werden. Das erhöht die Chance, dass mehr Menschen erfolgreich eine Weiterbildung absolvieren und idealerweise am Ende auch noch Spaß beim Lernen haben.

CONTRA

  • Je individueller der Lernzuschnitt ist, umso weniger ist nachvollziehbar, was die Menschen tatsächlich am Ende können. Wie kann also eine Vergleichbarkeit sichergestellt werden? Was ist am Ende ein erworbenes Bildungszertifikat wert, wenn nicht klar ist, welche Kompetenzen tatsächlich vermittelt wurden? Wie können Abschlüsse noch sinnvoll verglichen werden?
  • Je individueller das Lernen wird, umso mehr hängt der Lernerfolg allein an der einzelnen Person. Nicht nur das Lernen wird damit individueller, auch für Motivation, Komplexitätsreduktion oder die Klärung offener Fragen ist jedes Individuum eigenständig verantwortlich. Wenn das nicht der Fall sein soll, braucht es auch eine individuellere Betreuung, was gut wäre, jedoch eben auch aufwendig und teuer.
     

Weiterbildung wird dynamischer

PRO

  • Gerade durch die Digitalisierung sind immer mehr Kompetenzen in immer schnelleren Zeitabschnitten gefragt. Durch die Modularisierung kann sich hier eine ganz neue Dynamik entwickeln, die schneller und gezielter den Bedarf in den Unternehmen deckt, ohne lange darauf warten zu müssen, bis sich ein Berufsbild durch alle Gremien hindurch validiert hat. Gerade bei vielen Trendthemen ist eine neue Dynamik auch in der beruflichen Bildung wünschenswert, um weiterhin innovations- und wettbewerbsfähig bleiben zu können.

CONTRA

  • Je schneller sich Lerneinheiten entwickeln, umso weniger validiert und fundiert können die Lerninhalte sein. Was man heute gelernt hat, kann morgen schon wieder überholt sein. Dabei fehlt es dann an elementaren Grundfertigkeiten, die in der schnelllebigen Zeit unter die Räder kommen. Der Wissenstand vergrößert sich nicht, sondern verschiebt sich vielleicht nur noch von einer Entwicklung zur nächsten.
    Was nützt es also den Unternehmen, wenn Beschäftigte Wissen erwerben, das entweder nicht fundiert genug ist oder bereits überholt?

 

Und jetzt?
Haben Sie sich Ihre Meinung gebildet? Die interessiert uns sehr! Außerdem interessieren uns Ihre weiteren Pro- und Contra-Argumente und Praxiserfahrungen rund um die Weiterbildung, die wir vielleicht noch nicht aufgeführt haben.

Schreiben Sie uns, diskutieren Sie mit uns – wir freuen uns auf Ihre Rückmeldungen:

Redaktion Lernreich

info(at)bihk.de

 

 

Quellen

(1) KoFa Kompetenzzentrum Fachkräfte beim Institut der deutschen Wirtschaft (DIW) Köln e. V., Fachkräftereport, März 2022

Das KoFa ist ein Projekt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz.

(2) DIHK e. V., Berlin, Fachkräftereport 2021