Ich kann mich gar nicht entscheiden …

PraxisArtikel

Das Gefühl, wie es ist, unter Entscheidungsdruck zu geraten, kennt wahrscheinlich jeder. Beispiel Eisdiele: 30 Eissorten vor einem, hinter einem eine immer länger werdende Warteschlange. Manche Menschen fühlen sich dann so stark unter Druck gesetzt, dass sie am Ende kein Eis bestellen. Oder sie brauchen jemanden, der sie bei ihrer Entscheidung unterstützt: „Probier doch mal Rhabarber-Joghurt ...“ Zugegeben, das ist nur ein einfaches Beispiel, aber vom Prinzip her wachsen Jugendliche heute in vielen Bereichen mit einer ähnlichen, kaum zu überschauenden Vielfalt an Entscheidungsmöglichkeiten auf – und das kann auch für Ausbilderinnen und Ausbilder zu spürbaren Problemen führen. Warum? Weil Ausbildung heute immer öfter und viel mehr als noch vor einigen Jahren darauf abzielt, die Eigenverantwortung der Auszubildenden zu stärken, ihnen eigene Entscheidungen zuzutrauen und dadurch wichtige Lernerfahrungen zu sammeln. Stichwort: Lernprozessbegleitung statt Unterweisung!

Schöne Online-Welt
Im Internet und insbesondere in den sozialen Medien sehen Jugendliche, was alles möglich ist: Was sie erleben könnten, wohin sie reisen könnten, wie sie ihr Aussehen, ihren Kleidungsstil, ihren Tagesablauf, ihre Essgewohnheiten, ihr Fitnessprogramm usw. „optimieren“ könnten, was das nächste große Ding ist, das unser Leben umkrempeln wird … Wenn Jugendliche nie gelernt haben, diese oft geschönte Welt der unendlichen Möglichkeiten kritisch zu betrachten, kann das zu Problemen führen. Denn ständig kommt etwas noch Tolleres, noch Moderneres. Wer in dieser Welt klug ist, wartet am besten ab, ob nicht einen Klick weiter oder am nächsten Tag etwas noch Besseres ins Blickfeld kommt.

In der Ausbildung funktioniert diese Verhaltensstrategie allerdings weniger gut. Eigentlich gut gemeinte Ermunterungen wie „Mach doch einfach mal, wie du denkst!“ oder „Such dir das Projekt aus, das dich am meisten interessiert“ führen deshalb bei manchen Jugendlichen eher zu Ratlosigkeit. Soll ich es so oder anders machen? Was ist, wenn ich mich falsch entscheide? Für sie fühlt sich schnell alles unzureichend an, da sie gerne die „beste“ Variante auswählen würden – nur: Welche ist das? Projekt A, B oder C? Dann lieber gar kein Projekt, es könnte ja das Falsche sein ... 

Fehlende Entscheidungskompetenz

Noch eine andere Herausforderung führt bei manchen Jugendlichen zu Entscheidungsproblemen: Selbst zu entscheiden, will gelernt sein. Treffen Eltern zu oft an Stelle ihrer Kinder anstehende Entscheidungen, kann auch keine Entscheidungskompetenz entstehen. Die Gründe, zu oft über die Köpfe der eigenen Kinder hinweg zu entscheiden, sind verschieden, aber zwei von ihnen finden sich besonders häufig: 

  1. Übertriebene Fürsorge
    Diese Entscheidung könnte für das Kind zu schwer sein (wie eigentlich alle Entscheidungen), es soll sich mit dem Abwägen der Möglichkeiten nicht belasten und sich keine Sorgen machen. Dass Eltern ihren Kindern Entscheidungen abnehmen, begründen sie oft damit, dass kein Zweifel an ihm nagen und kein Misserfolg durch eine Fehlentscheidung den Sonnenschein trüben soll – wir kümmern uns und sorgen für den richtigen Weg.
     
  2. Fehlendes Vertrauen
    Wenn sich das Kind aus Sicht der Eltern möglicherweise falsch oder nicht erwartungsgerecht entscheidet, dann verursacht das potenziell Probleme, Stichwort Frisur oder Kleidungsstil. Die einfachste Maßnahme, um kritische Blicke und Kommentare der Nachbarn oder unangenehme Rückfragen durch Lehrer zu vermeiden, ist, dass das Kind im Zweifelsfall einfach nichts zu entscheiden hat. Wenn es einmal etwas reifer ist, wird es schon verstehen, dass das gut so war ... 
     

Viele Ausbilderinnen und Ausbilder kennen die Kehrseite solcher Erziehungsmuster: Den Jugendlichen fehlt es an Erfahrung, oft auch an Selbstvertrauen, eigene Entscheidungen zu treffen und für diese auch einzustehen. Stattdessen haben sie Angst, sich festzulegen oder etwas falsch zu machen, diese Angst kann in anspruchsvollen Situationen zu einer Totalblockade führen. Beide Muster machen auch deutlich, dass Jugendliche mit einer ausgeprägten Entscheidungsschwäche gefördert werden müssen. Für sie ist „das Entscheiden lernen“ bereits ein eigenes wichtiges Lernziel, das nur durch eigene Lernprozesse erreicht werden kann. 
 

TIPP 1 
Selbst zu entscheiden, will gelernt sein: vom Einfachen zum Schweren, vom Konkreten zum Abstrakten. Wenn Sie es also mit einer oder einem Auszubildenden mit einer ausgeprägten Entscheidungsschwäche zu tun haben, heißt die Devise, sie von vielen leichten Entscheidungen nach und nach zu den einzelnen schwierigeren zu führen.

Senken Sie den Entscheidungsdruck (nicht auf Null!), begleiten und trainieren Sie die Entscheidungsfindung. Fangen Sie möglichst früh in der Ausbildung schon mit kleinen Entscheidungen an, für die es nur zwei oder drei einfache Wahlmöglichkeiten gibt, und erarbeiten Sie anfangs die Entscheidung gemeinsam. Diskutieren Sie – auch wenn es anfangs mehr Zeit kostet – gemeinsam mit Ihren Auszubildenden als Gruppe oder im Einzelgespräch die zur Wahl stehenden Optionen, um entscheidungsrelevante Kriterien zu identifizieren und transparent zu machen: Der Weg ist das Ziel.

Hilfreich ist auch ein Denken in Szenarien, das heißt: Erörtern Sie gemeinsam die möglichen positiven und negativen Entwicklungen, die sich aus den Optionen ergeben können. Sammeln Sie gemeinsam objektiv zu erwartende und subjektiv empfundene Vor- und Nachteile und bestärken Sie Ihre Auszubildenden, ihre individuelle Entscheidung zu fällen und gegenüber anderen auch zu vertreten. 

Vermitteln Sie durch eigenes Erleben zusammengefasst:

  1. Fehler gehören zum Leben und unbedingt auch zum Lernen.
  2. Falsche Entscheidungen kann, darf und sollte man sich selbst verzeihen – nobody is perfect!
  3. Hab‘ Vertrauen in deine eigenen Entscheidungen.
  4. Entwickle bei schwierigen Entscheidungen ein Worst-Case- und ein Best-Case-Szenario, denn auf diese Weise werden die eigenen Ängste und Hoffnungen greifbarer und bewusster, du gewinnst Abstand von ihrer unmittelbaren Wirkung (Flucht/Euphorie).  
     

TIPP 2

Achten Sie als Ausbilderin bzw. Ausbilder darauf, nicht klammheimlich, zum Beispiel aus Zeitdruck, in die Rolle der Eltern zu rutschen und Entscheidungen „gut gemeint“ oder „zur Sicherheit“ über die Köpfe ihrer Auszubildenden hinweg zu fällen. 

Das richtige Maß – die größte Schwierigkeit

Auch das gibt es natürlich, nicht nur im Berufsleben, und auch das muss spätestens an dieser Stelle deutlich gesagt sein: Wo es nichts zu entscheiden gibt, sollte man seinen Kindern, seinen Auszubildenden oder seinem Team auch nichts vormachen. So wäre für viele bedeutungslose Fragen die Zeit viel zu kostbar, um eine lange Entscheidungsfindung vorzusehen: Mittagessen in der Kantine oder an der Imbissbude? Dafür lohnt es sich nicht, die Nährwertangabe des Tagesgerichts anzufordern und über die grundsätzliche Ausrichtung des persönlichen Ernährungsstils zu diskutieren.

Umgekehrt gibt es Verfahrens- oder Prozessschritte, von denen zum Beispiel aus Gründen des Sicherheits- und Gesundheitsschutzes, aufgrund von Rechtsvorschriften oder technischer Zusammenhänge nicht abgewichen werden darf – hier gibt es keine Entscheidungsspielräume, auch das müssen Kinder, Jugendliche, Auszubildende oder neue Mitarbeitende im Team verstehen und akzeptieren.

Die eigentlich schwierigen Fragen, die für jeden Abschnitt in der Ausbildung und für jeden Auszubildenden somit immer wieder neu zu stellen sind, lauten daher: Wo gibt man als Ausbilderin bzw. Ausbilder bewusst Entscheidungsspielräume, wie trainiert man das Entscheiden und was ist zu tun, wenn Auszubildende trotz einer Förderung ihrer Entscheidungskompetenzen partout nicht zu eigenen Entscheidungen zu bewegen sind? 

Während sich die ersten beiden Fragen für die meisten Ausbilderinnen und Ausbilder durch Erfahrung und durch den Austausch mit anderen Ausbildenden beantworten lassen, kann eine anhaltende „Totalverweigerung“ ein Indiz für tiefergehende psychische Probleme sein, Fachleute sprechen in diesem Falle von „Entscheidungsdepression“. Um es kurz zu machen: Holen Sie sich lieber frühzeitig Rat und Hilfe von außen hinzu, wenn Sie spüren, dass Ihre Bemühungen bei einer oder einem Auszubildenden zu keinem Effekt führen. Als Ansprechpartner stehen Ihnen die Ausbildungsberaterinnen und -berater Ihrer IHK auch in solchen Fällen gerne zur Verfügung und können mit passenden Kontakten zu Beratungsstellen helfen.

 


 

HINTERGRUND

Während bei den Fehlzeiten in Unternehmen der Anteil physischer Erkrankungen stetig zurückgeht, haben sich psychische Krankheiten in derselben Zeit mehr als verdoppelt (TK Gesundheitsreport 2022) – ganz vorne weg Depressionen. Insbesondere nach der Coronapandemie hat dieses Krankheitsbild auch bei Jugendlichen stark zugenommen.   

Ein Hauptmerkmal für Depressionen ist ein verminderter Antrieb, der sich auch in einer ausgeprägten Entscheidungsschwäche zeigen kann. Aber Achtung: Bei psychologischen Tests müssen immer mehrere Symptome zusammenkommen, bevor die Untersuchung den Verdacht auf eine Depression weiterverfolgt. Parallel auftretende Symptome sind zum Beispiel depressive Verstimmungen, Interessenverlust, Freudlosigkeit und eine gesteigerte Ermüdbarkeit, aber auch Konzentrationsprobleme, ein vermindertes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle bzw. das Gefühl, wertlos zu sein, verminderter Appetit, Schlafstörungen und negative Zukunfts- bis hin zu Suizidgedanken.

Erst wenn fünf dieser Symptome über mehr als zwei Wochen erfüllt sind, gehen Psychologen von einer Depression aus. Deshalb sollten Ausbilderinnen und Ausbilder potenziell betroffene Auszubildende genau beobachten, mit ihnen in ruhiger Atmosphäre ein Gespräch führen und diese Punkte vorsichtig (!) abklopfen, um einen ersten Eindruck zu erhalten. Oft fühlen sich depressive Meschen hilflos, sie leiden unter Schuldgefühlen und sind der Überzeugung, alles falsch zu machen. Ihre Gedanken kreisen ständig um Probleme und wirken deshalb oft abwesend. Negative Eindrücke und Wahrnehmungen nehmen bei ihnen wesentlich mehr Raum ein als positive. Das verlangsamt oft ihr Denkvermögen. Drängt sich der Verdacht auf, dass eine Depression vorliegen könnte, sollte ihnen unbedingt professionelle Hilfe vermittelt werden. Denn Depression ist eine echte Krankheit und kann sowohl psychosoziale als auch neurobiologische Ursachen haben. 


Weiterführende Links und Informationen

Die Ausbildungsberatungen der bayerischen IHKs 

Die meisten Krankenkassen halten Informationen zum Thema Depression (bei Jugendlichen) bereit.

Checkliste: Braucht mein Azubi Hilfe? (PDF, herausgegeben von der Kreishandwerkerschaft Augsburg und der Katholischen Jugendfürsorge Augsburg)