Digital Divide oder auch Digital Gap
Je weiter die Digitalisierung voranschreitet, desto mehr unterscheiden sich zwischen Unternehmen, ganzen Regionen und Ländern, aber auch einzelnen Haushalten, die Möglichkeiten, das Internet und Onlineanwendungen zu nutzen. Diese Kluft wird als „Digital Divide“ bezeichnet. Der Digital Divide trennt viele Entwicklungsländer von den großen Industrienationen und ebenso verschiedene Personengruppen und Haushalte innerhalb eines Landes – und damit richtet sich der Blick auf die jungen Menschen in Deutschland.
Während der Corona-Pandemie sind durch das Home-Schooling die Unterschiede in deutschen Haushalten besonders deutlich zutage getreten. Für Kinder und Jugendliche aus wohlhabenderen Familien war es keine Frage, die entsprechenden Voraussetzungen für die Teilnahme am digitalen Unterricht erfüllen zu können. Diese Kinder hatten einen schnellen Internetzugang, ihr eigenes Zimmer und meist einen eigenen Computer – darüber hinaus erhielten sie signifikant öfter kompetente Unterstützung durch ihre Eltern, die damals häufig selbst im Homeoffice arbeiteten.
Ganz anders sah das bei Familien aus, die mit einem wesentlich schmaleren monatlichen Budget klarkommen mussten. Die Kinder saßen teils mit ihren Geschwistern in einem Raum, verfügten meist über einen nur langsamen Internetzugang, besaßen oft nur ein Smartphone oder gar kein internetfähiges Gerät – die Teilnahme am digitalen Schulunterricht war so kaum möglich. Viele dieser Kinder tauchten damals einfach ab, ohne Unterricht und in der Folge mit großen Problemen, die Schule erfolgreich abzuschließen. Digitale Teilhabe umfasst jedoch nicht nur den Zugang zu Bildung. Jugendliche, die finanziell nicht die Möglichkeit haben, sich digital entsprechend auszustatten und einen verantwortungsvollen Umgang mit den Technologien und Anwendungen zu erlernen, verfügen auch über weniger Teilhabe am politischen Diskurs, an der Gesundheitsversorgung, an Bewerbungs-, Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten …
Was bedeutet der Digital Divide für die Ausbildung?
Die Annahme, dass alle heutigen jungen Menschen automatisch unter dem Begriff „Digital Natives“ zu verorten sind, ist zu kurz gegriffen. Aktuelle Studien, beispielsweise die IEA International Computer and Information Literacy Study 2018 (1), zeigen, dass weder das Alter noch die Generationszugehörigkeit etwas über die Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien aussagen. Um Medien- bzw. Digitalkompetenzen aufbauen zu können, muss der Umgang schlicht und einfach erlernt werden – und zwar mit entsprechender Begleitung.
Oft birgt der Übergang in die Ausbildung für Jugendliche, die hierbei nur eingeschränkt Erfahrung machen konnten, ein großes Risiko. Denn stellt sich in den besonders wichtigen ersten Ausbildungswochen heraus, dass sie bei den Digitalkompetenzen Schwächen aufweisen, wird ihnen dies leicht als mangelnde individuelle Fähigkeit ausgelegt. Ein fatales (Fehl-)Urteil, denn oft haben diese Jugendlichen bereits in der Schule (zumal während der Lockdown-Phasen) Ausgrenzung bis hin zur Ablehnung durch den digital besser ausgestatteten Durchschnitt erfahren. Wiederholen sich diese Erfahrungen in der Ausbildung, verstärkt sich die Kluft zu ihren digital gebildeteren Altersgenossen, das Risiko eines Abbruchs der Ausbildung steigt.
Ausbildende können den Gap schließen
Jugendliche sollen sich einfach online auf ihren Ausbildungsplatz bewerben – das klingt auf den ersten Blick zwar gut, geht aber an den Möglichkeiten der oben beschriebenen Gruppe vorbei. Noch einmal: Ein nicht unerheblicher Teil der Jugendlichen in Deutschland ist nicht „zu dumm“, um sich „vernünftig“ online zu bewerben, sondern während der Schulzeit dazu gar nicht in die Lage versetzt worden und daher oft von den technischen Gegebenheiten überfordert.
Beispiel: Sie besitzen ausschließlich ein Smartphone. Schreiben Sie einmal Ihren Lebenslauf auf dem Bildschirm in einer „vernünftigen“ Strukturierung und Formatierung, speichern sie diesen als PDF und laden sie ihn anschließend auf einer Internetseite hoch, deren Design nicht für Smartphones optimiert ist …
Das Beispiel soll lediglich verdeutlichen, dass Ausbilderinnen und Ausbilder eine besondere Sensibilität für die Bedeutung und die Folgen des Digital Divide benötigen, um sich nicht selbst ein Bein zu stellen und, siehe das Beispiel, an lern- und arbeitswilligen schlummernden Talenten vorbei zu agieren.
Positive Erfahrungen und Raum, um die eigenen digitalen Fähigkeiten mit einer modernen Ausstattung, ohne sozialen Druck und begleitet durch eine Vertrauensperson entwickeln bzw. aufholen zu können, sind für solche Jugendliche der sogenannte „Game-Changer“. Für Ausbilderinnen und Ausbilder lohnt es sich daher zum Beispiel
- Ausbildungsplatzsuchenden auch die Möglichkeit eines völlig formlosen digitalen Erstkontakts mit der Ausbildungsabteilung zu bieten, zum Beispiel über die sozialen Medien.
- schon beim ersten Kennenlerntermin vorsichtig nachzuforschen, wie es um die Digitalkompetenzen steht – und was dahintersteckt. Öfter als gedacht wird sich zeigen, dass die Neugier und das Interesse eigentlich riesig sind, aber bislang kaum geeignete Einstiegspunkte und Führung vorhanden waren.
- zum Start der Ausbildung eine gemeinsame spielerische „Bestandsaufnahme“ mit allen neuen Auszubildenden einzuplanen, um die Unterschiede bei den mitgebrachten Digitalkompetenzen präzise fassen zu können. Idealerweise helfen die Jugendlichen sich gegenseitig, um auf einen gleichen gemeinsamen Stand zu kommen, indem sie zum Beispiel als Zweiertandems Übungen in diesem Bereich bearbeiten.
- Kontakt mit den Lehrkräften in der Berufsschule aufzunehmen und auch mit ihnen das Thema „Digital Divide“ sowie mögliche Maßnahmen zum Schließen der Lücken zu besprechen.
Die Digitalisierung schreitet immer weiter voran. Wir sollten es uns nicht zu einfach machen und unbewusst voraussetzen, dass alle Jugendlichen mit dem Tempo schon klarkommen und ohnehin bereits Vorsprung haben. Der Digital Divide wirkt wie ein unsichtbarer Filter, durch den Ausbildungsbetriebe junge Menschen mit Potenzial oft gar nicht erst entdecken oder schnell wieder verlieren, ohne zu wissen, warum. Soll die digitale Transformation gelingen, müssen wir alle mitnehmen, die Älteren – und die Jüngeren, die noch nicht die Chance hatten, auf den Zug aufzuspringen und selber digital durchzustarten.
Quellen
(1) IEA International Computer and Information Literacy Study (ICILS)
Julian Fraillon , John Ainley , Wolfram Schulz , Daniel Duckworth , Tim Friedman
© International Association for the Evaluation of Educational Achievement 2019
Zusammenfassung kostenfrei erhältlich über die Webseite der EU-Kommission hier
Für die Erstellung dieses Textes
Digitalisierung und Teilhabe: Chancen und Risiken in der Kinder- und Jugendhilfe;
erstellt im Rahmen des Projekts „JAdigital. Digitalisierung in der Kinder- und Jugendhilfe konzeptionell gestalten“, gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ); Susanne Enssen, Iris Nieding, Sybille Stöbe-Blossey;
Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz gGmbH (ism)
Mainz 2023